»Und ich glaube, ich habe ihn gefunden.« »Den Geheimgang?«
»Ich glaube schon. Er folgt einem unterirdischen Fluß, das heißt, er muß ziemlich lang sein. Er fängt an einem Ort an, der die grüne Kapelle heißt. Und es gibt einen Schlüssel zum Aufspüren des Eingangs.« »Einen Schlüssel?«
Die Wache knurrte etwas, und Marek hielt einen Augenblick inne. Chris stand auf und wischte sich feuchtes Stroh von seinen Beinlingen. Er sagte: »Wir müssen hier raus. Wo ist Kate?«
Marek schüttelte den Kopf. Kate war noch frei, außer die Schreie der Wachen, die er im Gang gehört hatte, bedeuteten, daß man sie gefangen hatte. Aber das glaubte er nicht. Wenn er es also schaffte, mit ihr Kontakt aufzunehmen, konnte sie ihnen vielleicht helfen, hier rauszukommen.
Das bedeutete, daß sie irgendwie die Wache überwältigen mußten. Das Problem war, daß es von der Biegung im Gang mindestens zwanzig Meter bis zu dem Hocker waren, auf dem die Wache saß. Es gab also keine Möglichkeit, ihn zu überraschen. Aber wenn Kate in Reichweite ihrer Ohrstöpsel war, dann könnte er —
Chris hämmerte gegen die Gitterstäbe und rief: »He! Wache! Heda!«
Bevor Marek etwas sagen konnte, kam der Wachsoldat in Sicht und sah neugierig Chris an, der einen Arm durch die Stangen gestreckt hatte und ihm winkte. »He, komm her! He! Hierher.«
Die Wache kam heran, schlug gegen Chris Hand, die er noch immer durch die Stangen streckte, und fing plötzlich an zu husten. Chris hatte ihm aus seiner Dose Gas ins Gesicht gesprüht. Der Mann schwankte. Chris packte ihn am Kragen und sprühte ihm ein zweites Mal direkt ins Gesicht.
Der Mann verdrehte die Augen und fiel dann um wie ein Stein. Da Chris ihn noch immer am Kragen gepackt hatte, knallte sein Arm gegen eine Querstange. Er schrie vor Schmerz auf und ließ den Mann los, der nach hinten auf den Steinboden kippte und bäuchlings liegenblieb. Deutlich außer Reichweite. »Toll gemacht«, sagte Marek. »Und jetzt?«
»Du könntest mir ja helfen, weißt du«, erwiderte Chris. »Sei nicht so negativ.« Er kniete sich hin, streckte den Arm bis zur Achsel durch die Stange und bewegte tastend die Hand. Mit ausgestreckten Fingern konnte er den Fuß des Wachpostens fast erreichen. Fast, aber nicht ganz. Fünfzehn Zentimeter bis zur Sohle seines Schuhs. Chris streckte sich ächzend. »Wenn wir irgendwas hätten — einen Stecken oder einen Haken —, etwas, mit dem wir ihn heranziehen ...« »Das würde nichts bringen«, sagte der Professor aus der anderen Zelle. »Warum nicht?«
Der Professor kam nach vorne ins Licht und schaute durch die Stangen.
»Weil er den Schlüssel nicht hat.«
»Er hat den Schlüssel nicht? Wo ist er?«
»Er hängt an der Wand«, sagte der Professor und deutete den Korridor hinunter.
»Ach, Scheiße«, sagte Chris.
Die Hand des Soldaten auf dem Boden zuckte. Ein Bein ebenfalls. Er wachte auf.
Voller Panik fragte Chris: »Und was machen wir jetzt?«
Marek fragte: »Kate, bist du da?«
»Ich bin hier.«
»Wo?«
»Am anderen Ende des Gangs. Ich bin zurückgekommen, weil ich mir dachte, daß sie hier nie nach mir suchen.«
»Kate«, sagte Marek, »komm her. Schnell.«
Marek hörte Schritte, als Kate auf sie zurannte.
Der Soldat hustete, drehte sich auf den Rücken und stützte sich auf den
Ellbogen. Er sah den Korridor hinunter und fing dann hastig an aufzustehen.
Er war schon auf Händen und Knien, als Kate ihn gegen den Kopf trat,
so daß der Kopf nach hinten kippte und er wieder zu Boden fiel. Aber er war nicht bewußtlos, nur benommen. Er rappelte sich wieder hoch und schüttelte den Kopf.
»Kate«, sagte Marek. »Die Schlüssel.«
»Wo?«
»An der Wand.«
Sie wandte sich von dem Soldaten ab, nahm die Schlüssel, die an einem schweren Ring hingen, und ging damit zu Mareks Zelle. Sie steckte einen Schlüssel ins Schloß und versuchte ihn zu drehen, aber er bewegte sich nicht.
Grunzend warf der Soldat sich auf sie und riß sie von der Zelle weg. Eine Weile wälzten sie sich auf dem Boden. Kate war viel kleiner als er. Er hatte sie sehr schnell am Boden festgenagelt. Marek griff mit beiden Händen durch die Stangen, zog den Schlüssel aus dem Schloß und probierte einen anderen. Auch der paßte nicht. Nun saß der Soldat rittlings auf Kate und würgte sie mit beiden Händen. Marek probierte einen dritten Schlüssel. Kein Glück. Noch sechs andere Schlüssel hingen an dem Ring.
Kate lief bereits blau an. Ihr Atem kam rasselnd, keuchend. Sie schlug dem Mann mit den Fäusten auf die Arme, aber die Schläge waren wirkungslos. Sie boxte ihn zwischen die Beine, aber sein Überwurf schützte ihn.
Marek rief: »Messer! Messer!«, aber sie schien ihn nicht zu verstehen. Marek probierte den nächsten Schlüssel. Noch immer kein
Erfolg. Aus der gegenüberliegenden Zelle rief Johnston dem Soldaten etwas auf französisch zu.
Der Mann hob den Kopf und knurrte eine Erwiderung, und in diesem Augenblick zog Kate ihren Dolch und rammte ihm dem Mann mit all ihrer Kraft gegen die Schulter. Doch die Klinge konnte das Kettenhemd nicht durchdringen. Sie versuchte es noch einmal und noch einmal. Wütend fing der Mann an, ihren Kopf auf den Steinboden zu schlagen, damit sie das Messer fallenließ. Marek probierte einen weiteren Schlüssel. Er drehte sich mit lautem Quietschen.
Der Professor schrie, Chris schrie, und Marek stieß die Tür auf. Der Soldat drehte sich zu ihm um, ließ Kate los und stand auf. Hustend schwang sie das Messer gegen seine ungeschützten Beine und er schrie vor Schmerz auf. Marek schlug ihm zweimal mit aller Kraft auf den Kopf. Der Mann fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Chris sperrte die Zellentür des Professors auf. Kate stand auf, und langsam kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück.
Marek hatte den weißen Keramikmarker aus der Tasche gezogen und hielt den Daumen über den Knopf. »Okay. Jetzt sind wir endlich alle zusammen.« Er sah sich den Leerraum zwischen den Zellen an. »Ist genug Platz? Können wir die Maschinen hierher rufen?« »Nein«, sagte Chris. »Wir brauchen zwei Meter ringsherum, weißt du noch?«
»Wir müssen irgendwohin, wo es mehr Platz gibt«, sagte der Professor und wandte sich an Kate. »Weißt du, wie wir hier rauskommen?« Kate nickte. Sie rannten den Korridor hinunter.
Während Kate die anderen die Wendeltreppe hochführte, war sie plötzlich von neuer Zuversicht erfüllt. Der Kampf mit der Wache hatte sie irgendwie befreit; das Schlimmstmögliche war passiert, und sie hatte es überlebt. Obwohl es in ihrem Kopf pochte, fühlte sie sich jetzt freier und klarer als zuvor. Nun war auch die Erinnerung an ihre Forschungsarbeit zurückgekehrt: Sie wußte wieder, wie die Gänge verliefen.
Sie erreichten das Erdgeschoß und sahen auf den Burghof hinaus. Es war noch bevölkerter, als sie erwartet hatte. Viele Soldaten waren zu sehen, und auch Ritter in voller Rüstung und Höflinge in feinen Kleidern, die alle vom Turnier zurückkehrten. Es mußte gegen drei Uhr nachmittags sein; noch erstrahlte der Hof im Nachmittagslicht, aber die Schatten wurden bereits länger.
»Wir können nicht da raus«, sagte Marek kopfschüttelnd.
»Keine Angst.« Sie führte sie die Treppe hoch ins Obergeschoß und dann schnell in einen Gang mit Fenstern auf der Außen- und Türen an der Innenseite. Sie wußte, daß sich hinter diesen Türen kleine
Gemächer für Familienangehörige oder Gäste befanden.
Hinter ihr sagte Chris: »Ich war schon mal hier.« Er deutete auf eine der Türen. »Das ist Claires Zimmer.«
Marek schnaubte. Kate ging weiter. Am anderen Ende des Gangs bedeckte ein Teppich die linke Wand. Sie hob ihn hoch — er war überraschend schwer - und glitt dann, die Steine abtastend, an der Wand entlang. »Ich bin mir ziemlich sicher, daß er hier ist«, sagte sie. »Ziemlich sicher, daß was hier ist?« fragte Chris. »Der Gang, der uns in den hinteren Burghof führt.«
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