Sie hatte das Ende der Wand erreicht, aber eine Tür hatte sie nicht gefunden. Und wenn sie jetzt an der Wand entlangschaute, mußte sie zugeben, daß es auch nicht aussah, als wäre hier irgendwo eine Tür. Die Steine waren gleichmäßig und glatt mit Mörtel verfugt. Die Wand war plan, ohne Ein- oder Ausbuchtungen. Es gab keinen Hinweis auf nachträgliche oder kürzlich hinzugefügte Veränderungen. Als sie die Wange an die Wand legte und entlangspähte, wirkte sie wie aus einem Stück.
Irrte sie sich?
War es die falsche Stelle?
Sie konnte sich nicht irren. Die Tür mußte hier irgendwo sein. Sie ging zurück und tastete noch einmal die Steine ab. Als sie die Tür schließlich fand, war es reiner Zufall. Sie hörte Stimmen vom anderen Ende des Gangs, Stimmen, die aus dem Treppenhaus kamen, und als sie sich umdrehte, streifte ihr Fuß einen Stein am Sockel der Mauer. Sie spürte, wie der Stein sich bewegte.
Mit einem leisen metallischen Klicken öffnete sich direkt vor ihr eine Tür. Nun konnte sie sehen, daß die Maurer den Spalt mit erstaunlichem Geschick versteckt hatten.
Sie drückte die Tür auf. Alle gingen hindurch, Marek als letzter, und als er die Tür hinter sich schloß, hing der Teppich wieder glatt an der Wand.
Sie befanden sich in einem dunklen, schmalen Gang. Durch kleine Schlitze, die im Abstand von ein paar Metern in die Wand eingelassen waren, fiel ein schwaches Licht, so daß keine Fackeln nötig waren. Als Kate in den Ruinen von Castelgard diesen Gang in ihre Burgkarte eingezeichnet hatte, hatte sie sich gefragt, warum er überhaupt existierte. Er schien völlig nutzlos zu sein. Aber jetzt, da sie hier war, begriff sie seinen Zweck.
Das war kein Gang, um von einem Raum in einen anderen zu kommen. Es war ein Geheimgang, von dem aus man in die Gemächer im Obergeschoß spähen konnte.
Sie bewegten sich leise vorwärts. Aus einem angrenzenden Zimmer hörte Kate Stimmen: eine Frauen- und eine Männerstimme.
Als sie zu den kleinen Gucklöchern kamen, blieben sie alle stehen und lugten hindurch.
Von Chris kam ein Seufzen, das fast ein Aufstöhnen war. Zuerst sah Chris nur die Silhouetten eines Mannes und einer Frau vor einem hellen Fenster. Es dauerte einen Augenblick, bis seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten. Dann erkannte er Lady Claire und Sir Guy. Sie hielten sich an den Händen, berührten sich vertraut. Er küßte sie leidenschaftlich, sie hatte die Arme um seinen Hals gelegt und erwiderte den Kuß mit ähnlichem Feuer. Chris starrte nur hin.
Nun trennten sich die Liebenden, und Guy sprach zu ihr, während sie ihm tief in die Augen schaute. »Mylady«, sagte er, »Euer öffentliches Gebaren und Eure barsche Unhöflichkeit verleiten viele dazu, mich hinter meinem Rücken auszulachen und mich der Unmännlichkeit zu zeihen, weil ich Euch solche Beleidigungen durchgehen lasse.« »Aber es muß so sein«, sagte sie. »Um unser beider willen. Dies wißt Ihr sehr genau.«
»Doch hätte ich es gern, wenn Ihr es nicht gar so heftig treiben würdet.« »Ach so. Und wie denn dann? Wollt Ihr das Vermögen aufs Spiel setzen, das wir beide erstreben? Es gibt auch anderes Gerede, guter Ritter, das wißt Ihr nur zu gut. Solange ich mich der Heirat widersetze, teile ich den Verdacht, den viele hegen: daß Ihr beim Tod meines Gatten eine Hand im Spiel hattet. Doch wenn Lord Oliver mir diese Heirat aufzwingt, trotz aller meiner Gegenwehr, dann kann mir niemand mangelnde Achtung vor dem Toten vorwerfen. Habe ich recht?« »Ihr habt recht«, erwiderte er und nickte unglücklich. »Doch wie anders wären die Umstände, wenn ich Euch meine Gunst bezeugen würde«, fuhr sie fort. »Dieselben Zungen, die jetzt lästern, würden bald flüstern, daß auch ich Anteil hatte am unzeitigen Tod meines Gatten, und solche Gerüchte würden sehr schnell die Familie meines Gatten in England erreichen. Schon jetzt trachten sie danach, mir seine Ländereien wieder wegzunehmen. Es fehlt ihnen nur noch ein Vorwand dazu. Deshalb hat Sir Daniel ein wachsames Auge auf alles, was ich tue. Guter Ritter, mein Ruf als Frau ist schnell besudelt und dann nicht wiederherzustellen. Unsere einzige Sicherheit liegt in meiner unbeugsamen Feindseligkeit Euch gegenüber, und deshalb bitte ich Euch, ertragt, was Euch jetzt auch bekümmern mag, und denkt statt dessen an die winkende Belohnung.« Chris blieb der Mund offen stehen. Sie legte die gleiche innige Vertraulichkeit an den Tag - die tiefen Blicke, die sanfte Stimme, das zärtliche Streicheln im Genick —, die sie auch bei ihm benutzt hatte. Er hatte es als Zeichen dafür genommen, daß er sie verführt hatte. Aber jetzt war klar, daß sie ihn verführt hatte.
Sir Guy war verdrossen, trotz ihrer Zärtlichkeiten. »Und Euer Besuch im Kloster? Ich hätte es gern, wenn Ihr nicht mehr dorthin geht.« »Wie das? Seid Ihr eifersüchtig auf den Abt, Mylord?« fragte sie neckisch.
»Ich sage nur, ich hätte es gern, wenn Ihr nicht mehr dorthin geht«, erwiderte er stur.
»Und doch tat ich es aus wichtigem Grund, denn wer das Geheimnis von La Roque kennt, hat Sir Oliver in der Hand. Er muß tun, was man von ihm verlangt, will er das Geheimnis erfahren.« »Wie wahr, Mylady, und doch habt Ihr das Geheimnis nicht erfahren«, sagte Sir Guy. »Kennt der Abt es denn?«
»Ich habe den Abt nicht gesehen«, erwiderte sie. »Er war unterwegs.« »Und der Magister behauptet, er kenne es nicht.« »Ja, das behauptet er. Doch ich will den Abt noch einmal fragen, vielleicht morgen.«
Es klopfte an der Tür, eine gedämpfte männliche Stimme war zu hören. Beide drehten sich um. »Das muß Sir Daniel sein«, sagte er. .»Schnell, Mylord, in Euer Versteck.«
Sir Guy ging hastig zu der Wand, hinter der sie lauerten, zog einen Teppich beiseite, und dann mußten sie entsetzt zusehen, wie er eine Tür öffnete und direkt neben ihnen in den schmalen Gang trat. Sir Guy starrte sie einen Augenblick lang an und schrie dann: »Die Gefangenen! Alle entkommen! Die Gefangenen!«
Der Schrei wurde aufgenommen von Lady Claire, die nach Soldaten rief.
Im Gang sagte der Professor zu den anderen: »Wenn wir getrennt werden, geht zum Kloster. Sucht Bruder Marcel. Er hat den Schlüssel zum Geheimgang. Okay?«
Bevor einer etwas erwidern konnte, stürzten Soldaten in den Gang. Chris spürte, wie Hände ihn am Arm packten und ihn grob davonzerrten.
Sie waren wieder gefangen.
Eine einsame Laute spielte in der Halle, während die Diener die Speisen auftrugen. Lord Oliver und Sir Robert hielten ihre Mätressen an den Händen, tanzten nach dem Takt, den der Zeremonienmeister durch Klatschen vorgab, und lächelten begeistert. Als Lord Oliver nach einigen Schritten eine Drehung machte, um sich seiner Partnerin zuzuwenden, mußte er feststellen, daß sie ihm noch den Rücken zukehrte. Oliver fluchte.
»Nur eine Winzigkeit, Mylord«, sagte der Zeremonienmeister hastig und mit gefrorenem Lächeln. »Wenn Euer Gnaden sich erinnern wollen,
es geht vorwärts-zurück, vorwärts-zurück, Drehung, zurück, und
Drehung, zurück. Wir haben eine Drehung ausgelassen.«
»Ich habe keine Drehung ausgelassen«, sagte Oliver.
»In der Tat, Mylord, das habt Ihr nicht«, sagte Sir Robert sofort. »Es war ein Schnörkel in der Musik, der diese Verwirrung verursacht hat.«
Er warf dem Jungen, der die Laute spielte, einen bösen Blick zu.
»Nun denn.« Oliver nahm seine Position wieder ein und streckte dem
Mädchen die Hand hin. »Wie geht es?« fragte er. »Vorwärts-zurück,
vorwärts-zurück, Drehung, zurück...«
»Sehr gut«, sagte der Zeremonienmeister lächelnd und klatschte wieder den Takt. »Genau, jetzt habt Ihr's...«
Die Musik hörte auf. Lord Oliver drehte sich verärgert um und sah Sir Guy mit Wachen, die den Professor und einige andere umringten. »Was ist denn jetzt?«
»Mylord, es scheint, der Magister hat Gefährten.« »Äh? Was für Gefährten?«
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