Na ja, dachte Marek, eine Chance besteht immerhin, daß Chris überlebt.
Chris sah kaum etwas. Gefährlich im Sattel schaukelnd, erhaschte er nur verschwommene Blicke auf die Tribünen, den Erdboden, den anderen Reiter, der auf ihn zustürmte. Und so konnte er nicht abschätzen, wie weit entfernt Guy noch war, wie lange es bis zum Zusammenstoß dauern würde. Er hörte die donnernden Hufe seines Pferdes, seinen rhythmischen schnaubenden Atem. Verzweifelt hielt er seine Lanze umklammert, wurde im Sattel hin und her geworfen. Alles dauerte viel länger, als er erwartet hatte. Es kam ihm so vor, als würde er schon eine Stunde auf diesem Pferd reiten.
Im letzten Augenblick sah er Guy nur wenige Meter vor sich, der mit furchterregendem Tempo auf ihn zukam, und dann spürte er, wie die Lanze in seiner Hand zurückschnellte und ihn schmerzhaft an der rechten Flanke traf. Ein scharfer Schmerz schoß ihm in die linke Schulter. Der Aufprall verdrehte ihn im Sattel, und er hörte das Knacken splitternden Holzes. Die Menge tobte.
Das Pferd rannte weiter, zum anderen Ende des Platzes. Chris war benommen. Was war passiert? Seine Schulter brannte heftig. Seine Lanze war entzweigebrochen. Und er saß noch immer im Sattel. Scheiße.
Marek war nicht sehr glücklich über das, was er sah. Es war einfach Pech; die Lanze hatte Chris nur gestreift und ihn so nicht aus dem Sattel heben können. Jetzt würde er zu einem zweiten Durchgang antreten müssen. Er sah zu Sir Guy hinüber, der fluchend den Knappen eine neue Lanze aus den Händen riß, sein Pferd wendete und sich auf den zweiten Angriff vorbereitete.
Am anderen Ende des Platzes versuchte Chris, seine neue Lanze zu kontrollieren, die wild hin und her schwang wie ein Metronom. Schließlich schaffte er es, sie über den Sattel zu legen, doch das Pferd bockte und drehte sich.
Guy war wütend und mit seiner Geduld am Ende. Jetzt wartete er nicht länger. Er gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte los. Du Mistkerl, dachte Marek.
Die Menge schrie überrascht auf, als sie diesen einseitigen Angriff sah. Erst jetzt merkte Chris, daß Guy bereits in vollem Tempo auf ihn zu galoppiert kam. Aber sein Pferd ließ sich noch immer nicht bändigen. Er riß an den Zügeln, und in diesem Augenblick hörte er ein Klatschen: Einer der Knappen hatte sein Pferd aufs Hinterteil geschlagen. Das Pferd wieherte. Es legte die Ohren an. Und rannte los.
Dieser zweite Angriff war schlimmer, denn diesmal wußte Chris, was ihm bevorstand.
Die Lanze traf ihn mit voller Wucht, ein Schmerz schoß ihm durch die Brust, und er wurde in die Luft gehoben. Alles um ihn herum verlangsamte sich. Er sah, wie der Sattel sich von ihm entfernte, dann die Hinterflanken des Pferdes, und er kippte nach hinten und starrte plötzlich in den Himmel.
Er knallte mit dem Rücken auf die Erde. Sein Kopf schlug gegen den Helm. Er sah Sterne. Plötzlich hörte er in seinem Ohrstöpsel: »Jetzt bleib, wo du bist!«
Wie aus weiter Ferne ertönten wieder Posaunen, und dann wurde die Welt um ihn herum schwarz.
Am anderen Ende des Platzes wendete Guy sein Pferd, um sich auf den dritten Angriff vorzubereiten, aber schon kündigten die Posaunen das nächste Ritterpaar an.
Marek senkte die Lanze, spornte sein Pferd an und galoppierte los. Sein Gegner, Sir Charles de Gaune, stürmte auf ihn zu. Er hörte das rhythmische Trappeln der Pferde, das anschwellende Geschrei der Menge - die Leute wußten, daß dies ein guter Kampf werden würde —, während er sein Pferd antrieb. Sein Tier lief unglaublich schnell. Und Sir Charles kam ähnlich schnell auf ihn zu.
Mittelalterlichen Quellen zufolge bestand die eigentliche Schwierigkeit eines Lanzenduells weniger darin, die Lanze richtig zu halten oder sie auf dieses oder jenes Ziel auszurichten. Die Schwierigkeit bestand darin, seine Angriffslinie beizubehalten und nicht vor dem drohenden Aufprall zurückzuschrecken — sich nicht von der Panik überwältigen zu lassen, die fast jeden Reiter erfaßte, wenn er auf seinen Gegner zu galoppierte.
Marek hatte diese alten Texte gelesen, aber jetzt verstand er sie plötzlich: Er fühlte sich zittrig, wie benommen und schwach in den Gliedern, und seine Schenkel bebten, wenn er sein Pferd antrieb. Er zwang sich zur Konzentration, versuchte, sich zu sammeln und seine Lanze auf Sir Charles auszurichten. Aber die Lanzenspitze wippte im Galopp auf und ab. Er hob sie vom Sattelknauf und klemmte sie sich in die Armbeuge. Jetzt lag sie ruhiger. Auch sein Atem kam regelmäßiger. Er spürte, wie seine Kraft zurückkehrte. Er richtete die Lanze aus. Noch achtzig Meter.
Gestreckter Galopp.
Sir Charles neigte seine Lanze ein wenig nach oben. Er zielte also auf den Kopf. Oder war das nur ein Täuschungsmanöver? Es gab Lanzenreiter, die ihr Ziel noch im letzten Augenblick änderten. Würde er es tun? Sechzig Meter.
Den Kopf als Ziel zu nehmen war riskant, wenn nicht beide Reiter auf den Kopf des Gegners zielten. Eine gerade auf den Oberkörper gerichtete Lanze traf Sekundenbruchteile früher auf als eine auf den Kopf gezielte: Es war eine Frage des Winkels. Aber ein geschickter Ritter konnte seine Lanze aus der eingelegten Position nehmen und ein Stückchen weiter vorstrecken, so daß er ein paar zusätzliche Zentimeter und damit den ersten Treffer bekam. Man brauchte enorme Kraft, um die Wucht des Aufpralls abfedern und die Lanze im Zurückschnellen kontrollieren zu können, so daß das Pferd die Hauptlast zu tragen hatte; doch auf diese Art gelang es dem Reiter eher, einen gezielten Treffer des Gegners zu verhindern.
Sir Charles hielt die Lanze noch immer nach oben geneigt. Doch jetzt legte er sie ein und beugte sich im Sattel ein wenig vor. So hatte er die Lanze besser unter Kontrolle. Würde er noch einmal täuschen? Vierzig Meter.
Es war nicht zu sagen. Marek beschloß, auf die Brust zu zielen. Er brachte seine Lanze in Position. Ab jetzt würde er sie nicht mehr bewegen. Dreißig Meter.
Er hörte das Donnern der Hufe, das Brüllen der Menge. Die mittelalterlichen Texte warnten: »Schließe im Augenblick des
Aufpralls nicht die Augen. Behalte sie offen, um deinen Treffer zu landen.«
Zwanzig Meter.
Seine Augen waren offen.
Zehn.
Der Mistkerl hob die Lanze wieder. Er zielte auf den Kopf. Aufprall.
Das Krachen des Holzes klang wie ein Schuß. Marek spürte einen stechenden, nach oben schießenden Schmerz in seiner linken Schulter. Er ritt zum Ende des Platzes, ließ seine zerbrochene Lanze fallen und streckte die Hand nach einer neuen aus. Aber die Knappen starrten nur auf das Turnierfeld in seinem Rücken.
Als er sich umdrehte, sah er, daß Sir Charles auf der Erde lag und sich nicht rührte.
Und dann fiel sein Blick auf Sir Guy, der mit seinem Pferd um den noch immer bewegungslos am Boden liegenden Chris herumtänzelte. Das hatte er also vor, dachte Marek. Er würde Chris zu Tode trampeln. Marek wendete und zog das Schwert. Er hielt es hoch erhoben. Mit einem Wutgeheul spornte Marek sein Pferd an und stürmte los. Die Menge schrie und trommelte auf das Geländer. Sir Guy drehte sich um und sah Marek kommen. Dann schaute er noch einmal zu Chris hinunter und drückte seinem Pferd den Absatz in die Flanke, damit es seitwärts ging und ihn zertrampelte.
»Pfui! Pfui!« schrie die Menge, und sogar Lord Oliver war entsetzt aufgesprungen.
In diesem Moment hatte Marek Sir Guy erreicht. Er konnte nicht anhalten, sondern rauschte an Guy vorbei und schlug ihm, laut »Arschloch« schreiend, mit der Breitseite seines Schwerts auf den Helm. Er wußte, daß das seinem Gegner nicht weh tun würde, aber es war ein beleidigender Schlag, der Guy dazu bringen würde, von Chris abzulassen. Was auch geschah.
Sir Guy wandte sich sofort von Chris ab, als Marek mit erhobenem Schwert wendete. Er zog sein Schwert aus der Scheide und schwang es so heftig, daß die Klinge durch die Luft schwirrte. Klirrend traf es auf Mareks Klinge. Marek spürte, wie sein Schwert beim Aufprall in seiner Hand vibrierte, und holte zu einem Gegenschlag auf den Kopf aus. Guy parierte, die Pferde drehten sich, und immer und immer wieder klirrten die Schwerter aufeinander.
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