Diese Vertiefung in Details half ihm, sich zu entspannen.
Marek stand da und starrte voller Staunen das Dorf von Castelgard an.
Langsam dämmerte ihm: Er war hier!
Er fühlte sich leicht benommen, fast schwindelig vor Aufregung, während er alle Einzelheiten in sich aufnahm. Auf den Feldern tief unter ihm arbeiteten Bauern, die geflickte Beinlinge und rote, blaue, orange-und rosafarbene Kittel trugen. Die leuchtenden Farben hoben sich grell von der dunklen Erde ab. Viele Felder waren bereits bestellt, die Furchen aufgeschüttet. Es war Anfang April, die Frühjahrsaussaat von Gerste, Erbsen, Hafer und Bohnen - den sogenannten Fastenspeisen — dürfte so gut wie abgeschlossen sein.
Er sah zu, wie ein neues Feld gepflügt wurde, wobei zwei Ochsen den schwarzen eisernen Pflug zogen. Die Pflugschar öffnete die Furche und schob die Erde links und rechts zu kleinen Wällen zusammen. Es freute ihn, als er über dem eisernen Blatt eine Holzleiste erkannte. Das war das Streichbrett, typisch für diese Zeit.
Hinter dem Pflüger ging ein zweiter Bauer einher, der mit weiten, rhythmischen Bewegungen seines Arms säte. Der Sack mit dem Saatgut hing ihm vor dem Bauch. Und ein Stückchen hinter dem Sämann flatterten Vögel über der Furche, um die Samen aufzupicken. Aber es sollte ihnen nicht lange vergönnt sein. In einem Nachbarfeld sah Marek den Egger: ein Mann auf einem Pferd, das ein hölzernes, mit einem großen Stein beschwertes T-Kreuz hinter sich herzog. Diese Egge schloß die Furchen und schützte die Aussaat. Alles schien sich im gleichen langsamen, aber stetigen Rhythmus zu bewegen: die Hand, die die Saat auswarf, der Pflug, der die Furche zog, die Egge, die die Erde ebnete. Und kaum ein Geräusch störte den stillen Morgen, nur Insekten summten und Vögel zwitscherten. Hinter den Äckern sah Marek die sieben Meter hohe Steinmauer, die das Städtchen von Castelgard umgab. Der Stein war von einem dunklen, verwitterten Grau. An einem Abschnitt wurde die Mauer gerade repariert, die neuen Steine waren heller, gelblich grau. Davor krümmten Maurer den Rücken; sie arbeiteten schnell. Und auf der Mauerkrone gingen Wachposten in Kettenhemden auf und ab und blieben manchmal stehen, um nervös in die Ferne zu blicken. Über allem jedoch erhob sich die Burg selbst mit ihren runden Türmen und schwarzen Steindächern. Fahnen flatterten an den Türmen, und alle zeigten das gleiche Emblem: einen kastanienbraunen und grauen Schild mit einer silbernen Rose.
Die Fahnen gaben der Burg ein festliches Aussehen, und tatsächlich wurde direkt vor den Stadtmauern eine große hölzerne Tribüne für die Zuschauer des Turniers errichtet. Bereits jetzt strömte die Menge zusammen. Ein paar Ritter waren zu sehen, die Pferde neben den leuchtend farbigen, gestreiften Zelten angebunden, die überall um den eigentlichen Turnierplatz herum aufgestellt waren. Knappen und Stallburschen bewegten sich zwischen den Zelten und trugen Rüstungen und Waffen oder Wasser für die Pferde.
Marek nahm das alles in sich auf und ließ ein tiefes, befriedigtes Seufzen hören.
Alles, was er sah, stimmte genau, bis ins kleinste Detail. Und alles war real.
Er war hier.
Kate Erickson starrte Castelgard verwirrt an. Marek neben ihr seufzte wie ein Verliebter, aber sie wußte nicht so recht, wieso.
Natürlich war Castelgardjetzt ein lebhaftes Dorf, beeindruckend in seiner ganzen einstigen Pracht, alle Häuser und die Burg intakt. Im großen und ganzen sah die Szene für sie aber nicht viel anders aus als irgendeine ländliche französische Gegend. Vielleicht ein bißchen rückständiger als die meisten, mit Pferden und Ochsen anstelle von Traktoren. Aber ansonsten ...na ja, so anders war es einfach nicht. Architektonisch sah sie vor allem einen großen Unterschied zwischen der Szene hier und der Gegenwart: Alle Häuser hatten Lauzes-Dächer, die aus geschichteten schwarzen Steinen bestanden. Diese Steindächer waren unglaublich schwer und erforderten ein äußerst stabiles Dachgestühl, was auch der Grund war, warum die Häuser im Perigord, außer in Touristenzentren, keine solchen Dächer mehr hatten. Kate war daran gewöhnt, französische Häuser mit rotbraunen Dächern zu sehen, gedeckt entweder mit den geschwungenen römischen Pfannen oder den flachen Ziegeln französischer Machart.
Doch hier waren überall nur Lauzes-Dächer zu sehen. Und nirgendwo Ziegel.
Während sie nun weiter die Szene betrachtete, entdeckte sie noch andere Details. Zum Beispiel gab es sehr viele Pferde — wirklich sehr viele, wenn man alle zusammenzählte, die Pferde auf den Feldern, die Pferde beim Turnier, die Pferde, die auf schlammigen Straßen geritten wurden, und die Pferde auf den Weiden. Was ich von hier aus sehe, sind mindestens hundert Pferde, dachte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, je so viele Pferde auf einmal gesehen zu haben, nicht mal in ihrem Heimatstaat Colorado. Alle möglichen Pferde, von den schönen, geschmeidigen Schlachtrössern beim Turnier bis hin zu den alten Kleppern auf den Feldern.
Und während viele Leute, die auf den Feldern arbeiteten, trist und dunkel gekleidet waren, trugen andere so leuchtende Farben, daß sie fast ein wenig an die Karibik erinnert wurde. Diese Kleidungsstücke waren immer wieder geflickt, aber immer mit kontrastierenden Farben, so daß das bunte Flickwerk sogar aus der Entfernung zu sehen war. Es ergab fast eine Art von Muster.
Auch wurde ihr eine deutliche Grenze zwischen den relativ kleinen Bereichen menschlichen Lebens - den Städten und den be-bauten Feldern — und dem sie umgebenden Wald bewußt, ein ausgedehnter, dichter grüner Teppich, der sich in alle Richtungen erstreckte. In dieser Landschaft war der Wald das Vorherrschende. Sie hatte den Eindruck einer allumfassenden Wildnis, in der die Menschen nur Eindringlinge waren. Und noch dazu unbedeutende Eindringlinge. Als sie sich dann noch einmal der Stadt Castelgard zuwandte, spürte sie, daß da noch etwas war, das sie allerdings nicht so recht fassen konnte. Bis sie es schließlich erkannte: Es gab keine Kamine! Nirgendwo Kamine.
Die Bauernhäuser hatten einfach Löcher in den Strohdächern, aus denen der Rauch quoll. In der Stadt waren die Häuser ähnlich, auch wenn die Dächer mit Stein gedeckt waren: Der Rauch kam aus einem Loch oder aus einer Abzugsöffnung in der Außenmauer. Auch die Burg hatte keine Kamine.
Sie befanden sich also in einer Zeit, in der dieser Teil Frankreichs noch keine Kamine kannte. Aus irgendeinem Grund jagte ihr diese architektonische Nebensächlichkeit einen Schauer über den Rücken. Eine Welt vor den Kaminen. Wann waren Kamine eigentlich erfunden worden? Sie konnte sich nicht genau erinnern. Um sechzehnhundert waren sie auf jeden Fall schon weit verbreitet. Doch das war vom Jetzt noch eine lange Zeit entfernt. Von diesem Jetzt, erinnerte sie sich.
Hinter sich hörte sie Gomez sagen: »Was soll denn das, verdammt noch mal?«
Kate drehte sich um und sah, daß der mürrische Kerl, Baretto, angekommen war. Sein einzelner Käfig war auf der anderen Seite des Pfades, ein Stückchen tiefer im Wald gelandet. »Das ist meine Sache«, sagte er zu Gomez.
Er hatte seine Sackleinenkutte hochgeschoben, und darunter war ein schwerer Gürtel mit einer Pistole im Halfter und zwei schwarzen
Granaten zu sehen. Er kontrollierte eben die Pistole.
»Wenn wir die Welt betreten«, sagte Baretto, »will ich vorbereitet sein.«
»Dieses Zeug nimmst du nicht mit.« »Aber natürlich tue ich das, Schwester.« »Tust du nicht. Es ist nicht gestattet. Gordon würde nie zulassen, daß moderne Waffen in diese Welt mitgenommen werden.«
»Aber Gordon ist nicht hier, oder?« sagte Baretto.
»Dann schau mal her, verdammt noch mal«, sagte Gomez, zog ihren weißen Keramikmarker heraus und schwenkte ihn vor Baretto.
Es sah aus, als wollte sie ihm mit dem sofortigen Abbruch der Mission drohen.
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