»Natürlich kann man das.«
»Nein. Das kann man nicht. Am einfachsten zu verstehen ist das, wenn wir ein zeitgenössisches Beispiel nehmen. Sagen wir, Sie gehen zu einem Baseballspiel. Die Yankees gegen die Mets — was die Yankees natürlich gewinnen werden. Sie wollen das Ergebnis ändern, so daß die Mets gewinnen. Was können Sie tun? Sie sind nur ein Mensch in einer Riesenmenge. Wenn Sie versuchen, zur Spielerbank zu gehen, wird man Sie stoppen. Wenn Sie versuchen, aufs Spielfeld zu laufen, wird man Sie wegschaffen. Die meisten Aktionen, die Ihnen zur Verfügung stehen, werden mißlingen und daher den Ausgang des Spiels nicht ändern. Sagen wir, Sie entscheiden sich für eine extremere Aktion: Sie wollen den Werfer der Yankees erschießen. Aber in dem Augenblick, da Sie die Waffe ziehen, werden Sie wahrscheinlich schon von Fans, die in der Nähe stehen, überwältigt. Auch wenn Sie einen Schuß abgeben können, werden Sie mit ziemlicher Sicherheit danebenschießen. Und falls Sie den Werfer wirklich treffen, was kommt dabei heraus? Ein anderer Werfer wird seinen Platz ein-nehmen. Und die Yankees gewinnen das Spiel.
Sagen wir, Sie greifen zu einer noch extremeren Aktion. Sie wollen ein Nervengas freisetzen und alle im Stadion töten. Auch das wird Ihnen wahrscheinlich nicht gelingen, aus denselben Gründen, warum Sie keinen Schuß abgeben können. Aber auch wenn Sie es schaffen, alle zu töten, haben Sie dennoch den Ausgang des
Spiels nicht verändert. Sie können jetzt einwenden, daß Sie der Geschichte eine andere Richtung gegeben haben - vielleicht stimmt das ja —, aber Sie haben die Mets nicht in die Lage versetzt, das Spiel zu gewinnen. In Wirklichkeit gibt es nichts, was Sie tun können, um den Mets zu einem Sieg zu verhelfen. Sie bleiben, was Sie immer waren: ein Zuschauer.
Und dieses Prinzip trifft auf die große Mehrheit geschichtlicher Umstände zu. Ein einzelner Mensch kann wenig tun, um die Ereignisse in bedeutsamer Weise zu verändern. Große Massen können natürlich >den Lauf der Geschichte verändern AAber ein einzelner Mensch? Nein.«
»Das mag ja sein«, entgegnete Stern. »Aber ich kann meinen Großvater töten. Und wenn er tot ist, kann ich nicht geboren werden, ich würde nicht existieren und könnte ihn deshalb nicht erschossen haben. Und das ist ein Paradox.«
»Ja, das ist es - wenn man annimmt, daß Sie Ihren Großvater wirklich erschießen. Aber das könnte sich in der Praxis als schwierig erweisen. Vielleicht begegnen Sie ihm nicht zum richtigen Zeitpunkt. Vielleicht werden Sie unterwegs von einem Bus angefahren. Oder vielleicht verlieben Sie sich. Vielleicht verhaftet Sie die Polizei. Vielleicht töten Sie ihn zu spät, nachdem Ihre Mutter gezeugt wurde. Oder vielleicht stehen Sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber und merken, daß Sie den Abzug nicht drücken können.« »Aber theoretisch...«
»Wenn wir uns mit der Geschichte beschäftigen, sind Theorien wertlos«, sagte Doniger mit einem verächtlichen Winken. »Eine Theorie hat nur einen Wert, wenn sie zukünftige Ereignisse voraussagen kann. Aber Geschichte ist ein Bericht über menschliches Handeln - und keine Theorie kann menschliches Handeln voraussagen.« Er rieb sich die Hände.
»Nun denn. Sollen wir diese Spekulationen beenden und uns auf den Weg machen?«
Die anderen murmelten zustimmend.
Stern räusperte sich. »Um ehrlich zu sein«, sagte er, »ich glaube nicht, daß ich mitmache.« Marek hatte das schon erwartet. Er hatte Stern während der Bespre-chung beobachtet und gesehen, wie er auf seinem Stuhl hin und her rutschte, als könnte er es sich nicht bequem machen. Und er hatte bemerkt, wie Sterns Ängstlichkeit seit Beginn der Besichtigungstour ständig zugenommen hatte.
Marek selbst war sich sicher, daß er gehen wollte. Seit frühester Jugend war das Mittelalter sein ein und alles gewesen; er hatte sich vorgestellt, auf der Wartburg, in Carcassonne, Avignon und Mailand dabeizusein. Er hatte in den walisischen Kriegen mit Edward 1. gekämpft. Er hatte gesehen, wie die Bürger von Calais ihre Stadt aufgaben, hatte die Messen in der Champagne besucht. Er hatte an den prächtigen Höfen von Eleanor von Aquitanien und des Herzogs von Berry gelebt. Marek würde diese Reise unternehmen, unter allen Umständen. Was Stern anging...
»Tut mir leid«, sagte Stern eben, »aber eigentlich geht mich das alles nichts an. Zum Team des Professors bin ich nur gestoßen, weil meine Freundin in Toulouse einen Ferienkurs besucht. Ich bin kein Historiker. Ich bin Naturwissenschaftler. Und außerdem glaube ich nicht, daß es sicher ist.«
Doniger fragte: »Sie glauben, daß die Maschinen nicht sicher sind?« »Nein, der Ort. Und das Jahr 1357. Nach Poitiers herrschte in Frankreich Bürgerkrieg. Freie Soldatenhorden, die plündernd durchs Land zogen. Überall Banditen und Halsabschneider, und Gesetzlosigkeit pur.«
Marek nickte. Immerhin begriff Stern die Lage. Das vierzehnte Jahrhundert war eine untergegangene Welt und eine gefährliche. Es war eine religiöse Welt, die meisten Leute gingen einmal pro Tag zur Kirche. Aber es war auch eine unglaublich gewalttätige Welt, wo einfallende Armeen jeden töteten, wo Frauen und Kinder beiläufig in Stücke gehackt und Schwangere zum Vergnügen ausgeweidet wurden. Es war eine Welt, in der man das Bekenntnis zu den Idealen der Ritterlichkeit auf den Lippen trug, aber wahllos plünderte und mordete, in der Frauen als machtlos und schwach dargestellt wurden, gleichzeitig riesige Vermögen verwalteten und Burgen beherrschten, sich beliebig Bettgespielen nahmen und Attentate und Rebellionen planten. Es war eine Welt der sich ständig verändernden Grenzen und der sich ständig verändernden Allian-zen, oft von einem Tag zum anderen. Es war eine Welt des Todes, in der die Pest, Krankheiten und unaufhörlicher Krieg herrschten.
Gordon sagte zu Stern: »Ich will Sie auf keinen Fall zwingen.«
»Aber denken Sie daran«, sagte Doniger. »Sie werden nicht allein sein.
Ich gebe Ihnen eine Eskorte mit.«
»Tut mir leid«, sagte Stern noch einmal. »Tut mir leid.«
Schließlich sagte Marek: »Lassen Sie ihn hier. Er hat recht. Es ist nicht seine Zeit, und es geht ihn nichts an.«
»Jetzt, da du es erwähnst«, sagte Chris. »Ich habe nachgedacht: Eigentlich ist es auch nicht meine Zeit. Ich habe es eher mit dem späten dreizehnten als mit der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. Vielleicht sollte ich bei David bleiben —«
»Vergiß es«, sagte Marek und legte Chris den Arm um die Schultern. »Du wirst sehen, dir wird schon nichts passieren.« Marek behandelte es als Witz, obwohl Chris es nicht unbedingt als Witz gemeint hatte. Nicht unbedingt.
Es war kalt in dem Raum. Feuchtkühler Dunst bedeckte ihre Füße und Knöchel. Sie verwirbelten den Dunst, als sie auf die Maschinen zugingen.
Vier Käfige waren an den Sockeln miteinander verbunden worden, ein fünfter stand etwas abseits. »Das ist meiner«, sagte Baretto und stieg in diesen einzelnen Käfig. Er stand aufrecht da, starrte geradeaus und wartete.
Susan Gomez stieg in einen der kombinierten Käfige und sagte: »Alle
übrigen kommen mit mir.« Marek, Kate und Chris stiegen in die Käfige neben ihr. Die Maschinen schienen auf Federn gelagert zu sein, beim
Einsteigen schwankten sie leicht.
»Sind alle soweit?«
Die anderen murmelten und nickten.
Baretto sagte: »Die Damen zuerst.«
»Wie recht du doch hast«, erwiderte Gomez. Die beide schienen sich nicht gerade innig zu mögen. »Okay«, sagte sie zu den anderen. »Los geht's.«
Chris' Herz fing heftig an zu pochen. Er war leicht benommen und fühlte Panik in sich aufsteigen, ballte die Hände zu Fäusten. Gomez sagte: »Entspannen Sie sich. Ich glaube, es wird Ihnen gefallen.« Sie steckte den Keramikmarker in den Schlitz zu ihren Füßen und richtete sich wieder auf.
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