»Nein, sie ist Kate. Soweit wir das bei unseren Tests feststellen konnten, ist sie absolut identisch mit unserer Kate. Weil unser
Universum und ihr Universum fast identisch sind.«
»Aber sie ist nicht die Kate, die von hier verschwunden ist.«
»Wie könnte sie das sein? Sie wurde zerstört und wiederaufgebaut.«
»Fühlt man sich irgendwie anders, wenn das passiert?«
»Nur für eine oder zwei Sekunden«, antwortete Gordon.
Schwärze.
Stille, dann in der Ferne ein gleißend helles Licht. Das schnell näher kam.
Chris schauderte, als ein starker elektrischer Schlag durch seinen Körper jagte. Seine Finger zuckten. Einen Augenblick lang spürte er plötzlich seinen Körper, so wie man Kleidung spürt, wenn man sie anzieht; er spürte das ihn umgebende Fleisch, sein Gewicht, das Ziehen der Schwerkraft, den Druck seines Körpers auf die Fußsohlen. Ein stechender Kopfschmerz, ein einzelner Herzschlag, dann war das Gefühl verschwunden, und er war umgeben von einem intensiven purpurnen Licht. Er zuckte zusammen und blinzelte. Er stand in hellem Sonnenlicht. Die Luft war kühl und feucht. Vögel sangen in riesigen Bäumen, die um ihn herum in die Höhe ragten. Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Laubwerk und sprenkelten den Boden. Er stand in einem dieser Strahlen. Die Maschine stand neben einem schmalen schlammigen Pfad, der sich durch den Wald schlängelte. Direkt vor sich sah er durch eine Lücke in den Bäumen ein mittelalterliches Dorf.
Zuerst eine Ansammlung von Feldern und Bauernhäusern, aus deren Strohdächern grauer Rauch aufstieg. Dann eine Steinmauer und darin die dunklen Steindächer des Städtchens selbst, und schließlich, in der Entfernung, die Burg mit ihren runden Türmen.
Er erkannte sofort, was es war: Stadt und Festung von Castelgard. Es waren keine Ruinen. Die Mauern waren intakt. Er war hier.
Nichts auf der Welt ist so gewiß wie der Tod.
JEAN FROISSART
37:00:00
Gomez sprang bebende aus der Maschine. Marek und Kate stiegen langsam aus ihren Käfigen und schauten sich um, ein wenig benommen, wie es aussah. Auch Chris stieg aus. Seine Füße berührten den moosbewachsenen Boden. Das Moos fühlte sich weich und federnd an. »Phantastisch«, sagte Marek und entfernte sich sofort von seiner Maschine. Er überquerte den schlammigen Pfad, um einen besseren Ausblick auf die Stadt zu bekommen. Kate folgte ihm. Sie schien noch immer unter Schock zu stehen.
Chris wollte am liebsten nahe bei der Maschine bleiben. Er drehte sich langsam um und betrachtete den Wald. Er kam ihm dunkel, dicht, urzeitlich vor. Ihm fiel auf, wie riesig die Bäume waren. Einige von ihnen hatten so dicke Stämme, daß sich drei oder vier Leute dahinter verstecken konnten. Sie erhoben sich hoch in den Himmel, und ihre Wipfel vereinigten sich zu einem dichten Blätterdach, das einen Großteil des Waldbodens in Dunkelheit tauchte. »Wunderschön, nicht?« sagte Gomez. Sie schien zu spüren, daß ihm die Sache nicht ganz geheuer war.
»Ja, sehr schön«, erwiderte er. Aber er empfand es ganz und gar nicht so, etwas an dem Wald kam ihm bedrohlich vor. Immer wieder drehte er sich und versuchte zu begreifen, warum er das deutliche Gefühl hatte, daß etwas nicht stimmte an dem, was er sah -daß etwas fehlte oder etwas nicht am richtigen Platz war. Schließlich fragte er: »Was stimmt hier nicht?«
Sie lachte. »Ach, das«, sagte sie. »Horchen Sie.«
Einen Augenblick lang stand Chris nur da und lauschte. Er hörte das Zwitschern von Vögeln, das Rascheln eines leichten Windes in den Blattern. Aber ansonsten ... »Ich höre überhaupt nichts.«
»Genau«, sagte Gomez. »Einige Leute bringt das aus der Fassung, wenn sie das erste Mal hierherkommen. Es gibt keinen Umweltlärm: kein Radio, kein Fernsehen, keine Maschinen, keine Autos. Im zwanzigsten Jahrhundert sind wir so an Dauerlärm gewöhnt, daß diese Ruhe unheimlich wirkt.«
»Das wird's wohl sein.« Zumindest fühlte er sich genau so. Er wandte sich von den Bäumen ab und betrachtete den schlammigen Weg, der, von der Sonne beschienen, durch den Wald führte. An einigen Stellen war der Schlamm einen halben Meter tief, aufgewühlt von vielen Hufen.
Das ist eine Welt der Pferde, dachte er.
Keine Maschinengeräusche. Jede Menge Hufspuren.
Er atmete tief ein und stieß die Luft geräuschvoll aus. Sogar die Luft wirkte anders. Prickelnd und aromatischer, als wäre mehr Sauerstoff enthalten.
Als er sich wieder umdrehte, sah er, daß die Maschine verschwunden war. Gomez schien das nicht zu beunruhigen. »Wo ist die Maschine?« fragte er, bemüht, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen. »Weggedriftet.« » Weggedriftet?«
»Wenn die Maschinen voll aufgeladen sind, sind sie ein wenig instabil. Sie neigen dazu, immer wieder aus der jeweiligen Gegenwart zu gleiten. Deshalb können wir sie nicht sehen.« »Wo sind sie?« fragte Chris.
Sie zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht genau. Wahrscheinlich in einem anderen Universum. Egal, wo sie sind, es ist alles in Ordnung mit ihnen. Sie kommen immer wieder zurück.«
Um es zu beweisen, nahm sie ihren Keramikmarker und drückte mit dem Daumennagel auf den Knopf. In immer heller werdenden Lichtblitzen kehrte die Maschine zurück: alle vier Käfige, und sie standen genau an derselben Stelle wie einige Minuten zuvor. »Jetzt bleibt sie für eine oder vielleicht zwei Minuten hier«, sagte
Gornez. »Dann driften sie wieder weg. Ich tue nichts dagegen. So sind sie wenigstens aus dem Weg.«
Chris nickte; sie schien zu wissen, wovon sie sprach. Aber Chris war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, daß die Maschinen drifteten; sie waren seine Rückfahrkarte, und es gefiel ihm nicht, daß sie sich nach eigenen Regeln verhielten und beliebig verschwinden konnten. Würde irgendjemand mit einem Flugzeug fliegen, das der Pilot als »instabil« bezeichnete? Er fühlte Kälte auf seiner Stirn und wußte, daß er gleich in kalten Schweiß ausbrechen würde.
Um sich abzulenken, machte Chris sich daran, den anderen zu folgen. Mit tastenden Schritten, um nicht im Schlamm zu versinken, überquerte er den Pfad. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatten, bahnte er sich einen Weg durch das dichte Unterholz, ein Gestrüpp hüfthoher Pflanzen, die aussahen wie Rhododendron. Er drehte sich zu Gomez um. »Gibt's in dem Wald hier irgendwas, vor dem man Angst haben muß?« fragte er.
»Nur Vipern«, sagte sie. »Normalerweise hängen sie in den tieferen
Ästen der Bäume. Wenn man Pech hat, lassen sie sich einem auf die
Schulter fallen und beißen.«
»Toll«, sagte er. »Sind sie giftig?«
»Sehr.«
»Tödlich?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, sie sind sehr selten«, sagte sie. Chris beschloß, keine weiteren Fragen zu stellen. Inzwischen hatte er sowieso eine kleine sonnenhelle Lichtung erreicht. Er schaute nach unten und sah siebzig Meter unter sich die Dordogne, die sich durch Ackerland schlängelte, und dieser Anblick war nicht sehr verschieden von dem, den er bereits kannte.
Doch auch wenn der Fluß derselbe war, war doch vieles in dieser Landschaft anders. Die Burg von Castelgard war völlig intakt, und die Stadt ebenfalls. Außerhalb der Mauer lagen landwirtschaftlich genutzte Parzellen, einige Felder wurden eben gepflügt.
Doch dann richtete er seine Aufmerksamkeit nach rechts, denn dort lag tief unter ihm der mächtige rechteckige Komplex des Klosters - und die befestigte Mühlenbrücke. Seine befestigte Brücke! Die Brücke, die er den ganzen Sommer über studiert hatte - und die leider ganz anders aussah als seine Rekonstruktion am Computer!
Chris sah vier Wasserräder, nicht drei, bewegt von der Strömung, die unter der Brücke hindurchlief. Und auf der Brücke befand sich kein einzelnes, komplexes Gebäude. Es schienen zumindest zwei unabhängige Aufbauten zu sein, wie kleine Häuser. Das größere aus Holz, das andere aus Stein, was darauf hindeutete, daß sie zu verschiedenen Zeiten errichtet worden waren. Aus dem Steinbau quoll unablässig dichter grauer Rauch. Vielleicht machen die hier ja wirklich Stahl, dachte er. Wenn man wasserbetriebene Blasebälge hatte, dann konnte man auch einen richtigen Hochofen haben. Das würde auch die voneinander unabhängigen Aufbauten erklären. Denn in Getreidemühlen durfte sich nirgendwo ein offenes Feuer befinden — nicht einmal eine Kerze. Das war der Grund, warum Getreidemühlen nur tagsüber arbeiteten.
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