Er drehte sich um.
Ein Junge kam aus dem Wald. Sein Gesicht war glatt und bartlos, und er konnte nicht mehr als zwölf sein, wie Chris erkannte. Der Junge flüsterte: »Arkith.Thou. Earwashmann.«
Chris runzelte die Stirn, weil er nichts verstand, aber kurz darauf hörte er eine blecherne Stimme in seinem Ohr: »He. Ihr da. Irischmann.« Sein Ohrstöpsel übersetzte. »Was?« fragte er.
»Coumen hastealy.« Im Ohr hörte er: »Kommt schnell.« Der Junge winkte ihm, hektisch, eindringlich. »Aber...«
»Kommt. Sir Guy wird bald merken, daß er die Fährte verloren hat.
Und dann kehrt er zurück, um sie wiederaufzunehmen.«
»Aber...«
»Ihr könnt hier nicht bleiben. Er tötet Euch. Kommt!«
»Aber...« Chris deutete hilflos den Pfad hinunter, wo Marek verschwunden war.
»Euer Diener wird Euch finden. Kommt!«
Jetzt hörte er das entfernte Donnern von Pferdehufen, das schnell lauter wurde.
»Seid Ihr dumm?« fragte der Junge und starrte ihn an. »Kommt!« Das Donnern kam immer näher.
Chris stand wie erstarrt da, er wußte nicht, was er tun sollte. Der Junge verlor die Geduld. Mit einem entrüsteten Kopfschütteln drehte er sich um und rannte in den Wald. Im dichten Unterholz war er sofort verschwunden.
Chris stand allein auf dem Pfad. Er schaute den Hügel hinunter. Von
Marek war nichts zu sehen. Dann schaute er den Hügel hoch, in die
Richtung der näher kommenden Pferde. Sein Herz hämmerte wieder.
Er mußte sich entscheiden. Schnell.
»Ich komme«, rief er dem Jungen nach.
Dann drehte er sich um und rannte in den Wald.
Kate saß auf einem umgestürzten Baumstamm und berührte behutsam ihren Kopf, auf dem die Perücke verrutscht war. Sie sah Blut auf ihren Fingerspitzen.
»Bist du verletzt?« fragte Marek, der eben zu ihr stieß. »Ich glaube nicht.« »Laß mal sehen.«
Als Marek ihr die Perücke abnahm, sah er blutverklebte Haare und einen knapp acht Zentimeter langen Riß in der Kopfhaut. Die Wunde blutete nicht mehr stark, das Blut gerann bereits auf dem Netz der Perücke. Die Verletzung sollte eigentlich genäht werden, aber es würde auch ohne gehen.
»Du wirst es überleben.« Er setzte ihr die Perücke wieder auf den Kopf.
»Was ist passiert?« fragte sie.
»Diese beiden anderen sind tot. Jetzt sind wir auf uns allein gestellt. Chris ist ein bißchen in Panik.«
»Chris ist ein bißchen in Panik.« Sie nickte, als hätte sie das erwartet. »Dann sollten wir ihn besser holen.«
Sie gingen den Pfad wieder hoch. Unterwegs fragte Kate: »Was ist mit den Markern?«
»Der Kerl ist zurückgekehrt und hat seinen Marker mitgenommen.
Gomez' Leiche wurde zertrampelt, ihrer ist zerstört.«
»Was ist mit dem anderen?« fragte Kate.
»Was für einen anderen?«
»Sie hatte einen Ersatzmarker.«
»Woher weißt du das?«
»Sie hat es gesagt. Weißt du das nicht mehr? Als sie von diesem Erkundungsausflug zurückkam, oder was immer das war, sagte sie, daß alles okay sei und wir uns beeilen und fertigmachen sollten. Und dann sagte sie: >Ich brenne jetzt den Ersatzmarker.< Oder so was ähnliches.« Marek runzelte die Stirn.
»Ist doch einleuchtend, daß es einen Ersatzmarker gibt«, sagte Kate. »Na, Chris wird sich freuen, das zu hören«, sagte Marek. Sie umrundeten die letzte Biegung. Und standen dann da und starrten ins Leere.
Chris war verschwunden.
Ohne auf die Dornen zu achten, die ihm die Beine zerkratzten und an seiner Hose zerrten, pflügte Chris Hughes durchs Unterholz und entdeckte den rennenden Jungen schließlich fünfzig Meter vor sich. Aber der Junge beachtete ihn nicht, er hielt nicht an, sondern lief einfach weiter. Er lief auf das Dorf zu. Chris bemühte sich, mit ihm mitzuhalten. Er rannte weiter.
Hinter sich auf dem Pfad hörte er das Trampeln und Schnauben der Pferde und die Rufe der Männer. Einer schrie: »Im Wald!«, und ein anderer antwortete mit einem Fluch. Abseits des Pfads war der Boden dicht bewachsen. Chris mußte über umgestürzte Bäume, verfaulende Stämme und Äste, so dick wie sein Oberschenkel, springen und sich durch dichtes Dornengestrüpp arbeiten. War dieser Boden zu schwierig für Pferde? Würden die Männer absteigen? Würden sie aufgeben? Oder würden sie ihn verfolgen? Natürlich würden sie ihn verfolgen.
Er rannte weiter. Jetzt spürte er Morast unter den Füßen. Er schob sich durch hüfthohe Pflanzen, die nach Stinktier rochen, und schlitterte durch Schlamm, der mit jedem Schritt tiefer wurde. Er hörte das Rasseln seines Atems und das Patschen und Saugen seiner Füße im Schlamm. Aber hinter sich hörte er niemanden.
Bald hatte er wieder festen Boden erreicht und konnte schneller laufen. Jetzt war der Junge nur noch zehn Schritte vor ihm, lief aber immer noch schnell. Chris keuchte und hatte Schwierigkeiten mitzuhalten, aber der Junge verringerte sein Tempo nicht.
Chris rannte weiter. In seinem linken Ohr hörte er ein Knistern.
»Chris?«
Es war Marek.
»Chris, wo bist du?«
Wie antwortete man gleich wieder? Gab es ein Mikrofon? Dann erinnerte er sich, daß sie etwas über Knochenleitung gesagt hatten. Laut sagte er: »Ich ... ich... renne.«
»Das kann ich hören. Wohin rennst du?«
»Der Junge ... das Dorf...«
»Du rennst zum Dorf?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube schon.«
»Du glaubst? Chris, wo bist du?«
Plötzlich hörte Chris hinter sich ein Krachen, die Rufe von Männern und das Wiehern von Pferden.
Die Reiter jagten hinter ihm her. Und er hatte eine deutliche Spur aus zerbrochenen Ästen und schlammigen Fußabdrücken hinterlassen. So konnten sie ihm ganz leicht folgen. Scheiße.
Chris rannte noch schneller, er trieb sich bis zum äußersten. Und plötzlich erkannte er, daß er den Jungen nicht mehr vor sich sah.
Schwer atmend blieb er stehen und drehte sich im Kreis. Er suchte -Nichts.
Der Junge war verschwunden. Chris war allein im Wald. Und die Reiter kamen näher.
Marek und Kate standen auf dem schlammigen Pfad oberhalb des
Klosters und horchten angestrengt in ihre Ohrstöpsel. Im Augenblick war nichts zu hören. Kate hielt sich die Hand über das Ohr, um besser zu verstehen. »Ich kriege überhaupt nichts rein.«
»Vielleicht ist er außer Reichweite«, sagte Marek.
»Warum geht er ins Dorf? Es klingt, als würde er diesem Jungen folgen«, mutmaßte sie. »Aber warum?«
Marek sah zum Kloster hinunter. Es war nicht mehr als zehn Minuten Fußmarsch entfernt. »Der Professor ist wahrscheinlich jetzt gerade da unten. Wir könnten ihn einfach holen und nach Hause verduften.« Er trat verärgert gegen einen Baumstumpf. »Es hätte so einfach sein können.« »Jetzt nicht mehr«, sagte Kate.
Ein lautes Knistern in ihren Ohrstöpseln ließ sie zusammenzucken. Sie hörten Chris wieder keuchen.
Marek fragte: »Chris. Bist du das?«
»Ich kann... kann jetzt nicht reden.«
Er flüsterte. Und er klang verängstigt.
»Nein, nein, neinl« flüsterte der Junge und streckte Chris aus den Asten eines sehr hohen Baums die Hand entgegen. Er hatte schließlich Mitleid bekommen mit Chris, der sich unter ihm auf dem Bo-den panisch im Kreis drehte, und gepfiffen. Und ihn zu dem Baum gewinkt.
Jetzt mühte Chris sich ab, auf den Baum zu klettern. Er versuchte sich an den unteren Ästen hochzuziehen und stützte sich dabei mit den Füßen am Stamm ab. Aber diese Methode schien den Jungen zu verärgern. »Nein, nein! Benutzt nur die Hände!« flüsterte er entsetzt. »Ihr seid wirklich dumm - seht nur, was Eure Füße für Spuren auf dem Stamm hinterlassen.«
Chris, der nun frei an einem Ast hing, schaute nach unten. Der Junge hatte recht. An der Borke des Stamms waren wirklich deutlich Schlammspuren zu erkennen.
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