»Beim Kreuz, wir sind verloren«, rief der Junge, schwang sich über Chris' Kopf hinweg und sprang leichtfüßig zu Boden. »Was tust du?« fragte Chris.
Aber der Junge rannte bereits wieder, mitten durch das Dor-nengestrüpp hastete er von Baum zu Baum. Chris ließ sich zu Boden fallen und folgte ihm.
Verärgert murmelnd musterte der Junge die Äste jedes Baums. Anscheinend suchte er einen sehr großen Baum mit relativ weit herunterreichenden Ästen, aber keiner schien ihm zu passen. Der Lärm der Reiter wurde lauter.
Bald hatten sie über hundert Meter zurückgelegt und kamen jetzt an eine Stelle, die dicht mit knotigen Latschen bewachsen war. Hier war es ungeschützter und sonnig, weil rechts von ihnen weniger Bäume standen, und dann sah Chris, daß sie am Rand eines Steilhangs hoch über der Stadt und dem Fluß entlangliefen. Der Junge schlug einen Haken vom Sonnenlicht weg und wieder tiefer in den dunkleren Wald hinein. Fast sofort fand er einen Baum, der ihm gefiel, und er winkte Chris. »Ihr geht zuerst. Und keine Füße!«
Der Junge beugte die Knie, verschränkte die Finger und spannte seinen Körper an. Chris hatte den Eindruck, der Junge sei zu schmächtig, um sein Gewicht zu tragen, der aber schüttelte nur ungeduldig den Kopf. Chris stellte seinen Fuß auf die Hände des Jungen, streckte die Arme nach oben und packte den untersten Ast. Mit der Hilfe des Jungen zog er sich hoch, bis er sich mit einem letzten Grunzen über den Ast schwingen konnte. Nun lag er bäuchlings darüber. Er sah zu dem Jungen hinunter, doch der zischte nur: »Weiter!« Chris rappelte sich mühsam auf die Knie hoch und stand dann auf. Der nächste Ast war leicht zu erreichen, und er kletterte weiter. Der Junge sprang einfach nur in die Luft, packte den Ast und zog sich schnell daran hoch. So schlank er war, war er doch überraschend stark, und er kletterte mit sicheren Bewegungen von Ast zu Ast. Chris befand sich jetzt etwa sieben Meter über dem Boden. Seine Arme brannten, und er keuchte, doch er bewegte sich weiter von Ast zu Ast. Der Junge packte ihn am Fußgelenk, und Chris erstarrte. Langsam und vorsichtig schaute er über die Schulter nach unten und sah, daß der Junge starr auf dem Ast unter ihm kauerte. Dann hörte Chris das leise Schnauben eines Pferdes und erkannte, daß das Geräusch nahe war. Sehr nahe.
Auf dem Boden unter ihnen bewegten sich sechs Reiter langsam und leise vorwärts. Sie waren noch ein Stückchen entfernt und verschwanden immer wieder hinter dichtem Laubwerk. Wenn ein Pferd schnaubte, streichelte der Reiter ihm den Hals, um es zu beruhigen. Die Reiter wußten, daß sie ihrer Beute sehr nahe waren. Sie beugten sich in den Sätteln vor und musterten den Boden auf der einen und der anderen Seite. Zum Glück befanden sie sich jetzt in dem Latschengestrüpp, hier waren keine Spuren zu sehen. Sich mit Handzeichen verständigend, verteilten sie sich, bis sie in etwa eine Linie bildeten, und so ritten sie langsam links und rechts des Baums vorbei. Chris hielt den Atem an. Wenn sie jetzt hochschauten ... Aber sie taten es nicht.
Sie ritten weiter, tiefer in den Wald hinein, und schließlich sprach einer von ihnen laut. Es war der Reiter mit dem schwarzen Helmbusch, der Gomez den Kopf abgeschlagen hatte. Sein Visier war hochgeklappt. »Es reicht. Sie sind uns entwischt.« »Wie? Über den Steilhang?«
Der schwarze Ritter schüttelte den Kopf. »Das Kind ist nicht so dumm.« Chris sah, daß sein Gesicht dunkel war: eine dunkle Haut und dunkle Augen.
»Und auch so recht kein Kind mehr, Mylord.«
»Wenn er stürzte, dann war es ein Versehen. Es kann nicht anders sein. Ich glaube, wir sind in die Irre gegangen. Wir wollen umkehren.« »Mylord.«
Die Reiter wendeten ihre Pferde und ritten zurück. Wieder kamen sie an dem Baum vorbei, noch immer weit verteilt, doch sie ritten weiter ins Sonnenlicht.
»Vielleicht finden wir in besserem Licht ihre Spur wieder.« Chris seufzte erleichtert auf.
Der Junge unter ihm klopfte ihm aufs Bein und nickte ihm zu, als wollte er sagen: Gut gemacht. Sie warteten, bis die Reiter mindestens hundert Meter entfernt und fast außer Sicht waren. Dann glitt der Junge leise am Stamm hinunter, und Chris folgte ihm, so gut er konnte. Als Chris wieder festen Boden unter den Füßen hatte, sah er, daß die Reiter sich immer weiter entfernten. Sie kamen zu dem Baum mit den schlammigen Fußabdrücken. Der Anführer ritt vorbei, ohne sie zu bemerken. Dann der nächste.
Der Junge packte ihn am Arm und zerrte ihn ins Unterholz. Dann: »Sir Guy! Seht hier! Der Baum. Sie sind in dem Baum!« Einer der Ritter hatte es bemerkt. Scheiße.
Die Reiter wendeten ihre Pferde und schauten alle in den Baum hoch. Der schwarze Ritter kam mit skeptischer Miene dazu. »Was? Zeig es mir.«
»Ich kann sie dort oben nicht sehen, Mylord.«
Die Ritter drehten sich, schauten in alle Richtungen, schauten hinter sich
Und sahen sie. »Dort!«
Die Ritter stürmten los.
Der Junge lief, so schnell er konnte. »Bei Gott, wir sind wahrlich verloren«, sagte er und sah sich im Rennen über die Schulter. »Könnt Ihr schwimmen?« »Schwimmen?« fragte Chris.
Natürlich konnte er schwimmen. Aber daran dachte er im Augenblick gar nicht. Denn jetzt rannten sie in vollem Tempo auf die Lichtung zu, auf den Waldrand. Auf den Steilhang.
Das Gelände neigte sich, erst sanft, dann immer steiler. Der Bewuchs wurde dünner, überall trat nackter, gelblich weißer Kalkstein hervor. Die Sonne schien grell herunter.
Der schwarze Ritter schrie irgend etwas. Chris verstand es nicht. Dann hatten sie den Rand der Lichtung erreicht. Ohne zu zögern, sprang der Junge ins Leere.
Chris zögerte, er wollte ihm nicht folgen. Als er sich umdrehte, sah er, daß die Ritter mit erhobenen Breitschwertern auf ihn zu galoppierten. Keine andere Wahl.
Chris drehte sich wieder um und rannte auf den Rand des Steilhangs zu. Marek zuckte zusammen, als er Chris' Schrei in seinem Ohrstöpsel hörte. Der Schrei war zuerst laut und endete mit einem Grunzen und einem Krachen. Ein Aufprall.
Horchend stand er mit Kate neben dem Pfad. Sie warteten. Doch sie hörten nichts mehr. Nicht einmal statisches Rauschen. Überhaupt nichts. »Ist er tot?« fragte Kate.
Marek antwortete nicht. Er ging schnell zu Gomez' Leiche, kauerte sich hin und fing an, den Schlamm abzusuchen. »Komm«, sagte er, »hilf mir, den Ersatzmarker zu suchen.«
Ein paar Minuten lang suchten sie, und dann packte Marek Gomez' Hand, die bereits fahlgrau und steif wurde. Er hob den Arm, spürte dabei die Kälte der Haut und drehte den Torso um. Die Leiche klatschte bäuchlings wieder in den Schlamm.
Erst jetzt bemerkten sie das Armband aus geflochtenen Schnü-ren, das Gomez an ihrem Handgelenk trug. Marek war es zuvor nicht aufgefallen; es schien einfach Teil ihres historischen Kostüms zu sein. Natürlich war es völlig falsch für die Zeit. Auch eine bescheidene Bauersfrau würde ein Armband aus Metall, gemeißeltem Stein oder Holz tragen, wenn sie überhaupt etwas trug. Dieses Armband sah aus wie modernes Hippie-Zeug.
Marek berührte es neugierig und stellte überrascht fest, daß es sich steif anfühlte, fast wie Karton. Er drehte es um ihr Handgelenk und suchte nach der Schließe, und plötzlich klappte in dem geflochtenen Band eine Art Deckel auf. Er erkannte, daß das Armband eigentlich ein kleiner elektronischer Timer war, fast wie eine Armbanduhr. Der Timer zeigte: 36:29:37. Und er zählte rückwärts.
Marek wußte sofort, worum es sich handelte. Es war ein Meßgerät, das anzeigte, wieviel Zeit seit ihrem Start vergangen war und wieviel ihnen noch blieb, bevor sie zurückkehren mußten. Ursprünglich hatten sie siebenunddreißig Stunden gehabt, aber inzwischen hatten sie mehr als dreißig Minuten verloren.
Das Ding sollten wir behalten, dachte er. Er zog den Timer von Gomez' Handgelenk und streifte ihn über seins.
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