Für die Araber war dieser Komplex ein ideales Versteck, das war ihm bei der ersten Besichtigung klar geworden. Das Gelände war riesig, unüberschaubar und von vielen Tagesgästen frequentiert. Niemand achtete hier auf unbekannte Gesichter.
Was für die Araber von Vorteil war, das erwies sich jetzt auch für ihn als idealer Ort, seinen Plan zu realisieren. Das Palais Rhoul lag nur wenige Minuten entfernt. Eine Golfausrüstung hatte er sich bereits gekauft. Die Waffe passte ohne Probleme in den Golfbag – samt Golfschlägern. Nahe genug rankommen würde er auch. Er hatte sich als vermeintlicher Golfspieler bereits für zwei Wochen ein Zimmer auf der anderen Seite des Pools, direkt gegenüber ihren Wohnungen gemietet. Jetzt galt es, die Aktivitäten der Araber zu beobachten, ihren Tagesablauf auszukundschaften, die Fährten zu verfolgen, zu warten, bis das Wild müde war – und ein gutes Ziel abgeben würde. Seine Rache würde lautlos sein.
Um neun Uhr morgens war der Anruf ihres Verlagsfreundes Peter gekommen. Das Gespräch hatte nicht dazu beigetragen, dass Marie-Claire de Vries ruhiger wurde. Seit ihrer Rückkehr vom Wörthersee fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Die Geschehnisse dort setzten ihr sehr zu. Millionen Fragen schossen ihr durch den Kopf. Warum nur hatte Gregor sie so rüde behandelt? Hatte er das, was er gesagt hatte, wirklich so gemeint? Oder war er menschlich von ihr so enttäuscht, weil sie in seinen Unterlagen herumgeschnüffelt hatte, dass er ihr nur wehtun wollte?
Marie-Claire war völlig aufgelöst. Sie hatte das Gefühl, durch ihr Leben zu taumeln. Sie reagierte auf Impulse von außen, aber sie agierte nicht. Und das schadete vor allem ihrer Arbeit. Sie arbeitete nicht so, wie Francis Roundell es von ihr erwartete. Es war ihr noch nie während ihres gesamten Berufslebens passiert, dass sich private Befindlichkeiten auf ihre beruflichen Pflichten ausgewirkt hatten. Die Konflikte zeichneten sich bereits so drastisch ab, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie Francis all das erklären sollte. Francis! Natürlich hatte er sich wieder gemeldet, hatte telefonisch nach dem Stand der Dinge gefragt und angedeutet, dass entweder er nach Wien oder sie nach London kommen müsse. Glücklicherweise konnte sie ihn wegen des anstehenden Gesprächs mit Peter etwas vertrösten. Heute Abend jedoch musste sie ihn anrufen. Weder wusste sie, welche Fakten – und nur um die ging es – sie ihm mitteilen sollte, noch hatte sie einen blassen Schimmer, was sie ihm überhaupt sagen wollte und konnte! An ihrem Misstrauen ihm gegenüber hatte sich nichts geändert. Ihr Leben hatte sich komplett verändert. Ihr spukten nur noch Bilder und Fakten von Vlies-Rittern, absurde Philosophien einer christlich-fundamentalistischen Organisation, indische Mythen und aberwitzige Theorien über den Florentiner durch den Kopf. Nachts hatte sie eigentümliche erotische Träume.
War das Zufall? Gab es solche Zufälle? Gab es hinter dem Geflecht der kleinen Geschehnisse eine Bestimmung, die vorgab, was geschah – geschehen würde? Warum, und diese Frage beschäftigte sie seit dem Anruf von Peter am frühen Morgen, warum kam dieser dubiose Araber ausgerechnet jetzt nach Wien? Wieso hatte ihre Freundin Chrissie ausgerechnet heute Vormittag angerufen und ihr mitgeteilt, dass Gregor kein Vlies-Ritter – aber oberster Bandinhaber dieser ultra-katholischen Bruderschaft war? Was hatte Chrissie gesagt? »Vielleicht legt dieser Gregor von Freysing sich ja so ins Zeug mit der Suche nach dem Florentiner, weil er sich für die Aufnahme in den Vlies-Orden qualifizieren will. Vielleicht ist er ein Profilneurotiker.«
All diese Geschehnisse, die sich um den Florentiner rankten, verwirrten sie und beeinträchtigten ihre Disziplin, die sie sonst stets bei der Arbeit zeigte. Zumal sie Gregor noch immer nicht richtig einzuschätzen wusste. Seit dem Besuch am Wörthersee versuchte sie jegliche Gedanken an ihn zu verdrängen. Doch es gelang ihr nicht so recht. Sie wusste jedoch, dass ihre anfängliche Begeisterung für Gregor einer tiefen Nachdenklichkeit gewichen war. So, wie sie jetzt empfand, konnte sie sich kaum vorstellen, Gregor jemals wieder sehen zu wollen. Und jetzt dieser Araber! Wie war noch einmal sein Name? Abdel Rahman? Sie fand das sehr hilfreich von Peter, dass sie diesen Mann am späten Nachmittag kennen lernen würde, auch wenn es ganz sicher bedeutete, weitere Verflechtungen bei ihrer Recherche berücksichtigen zu müssen. Denn der Araber interessierte sich ebenfalls für den Florentiner. Sein Interesse war so ausgeprägt, dass er dem Verlag, bei dem Peter arbeitete, jetzt sogar offiziell angeboten hatte, das Originalmanuskript des Buches über die Vitrine XIII in der Wiener Schatzkammer für zweihunderttausend Euro abzukaufen. Peter hatte auch keinen Hehl daraus gemacht, dass dies für den Verlag eine enorme Summe war, zumal dieses Buch bereits vor fast fünfzig Jahren veröffentlicht worden war. Da sich niemand mehr für das Buch interessierte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Verlag das Manuskript an den Araber verkaufen würde. Das hatte Peter am Telefon angedeutet. Die Entscheidung würde im Laufe des Tages fallen. Daher hatte man sich mit dem Araber auf ein erneutes Treffen um achtzehn Uhr geeinigt.
Marie-Claire schaute auf die Uhr. Zum Mittagessen hatte sie sich mit ihrer Schwester Cathrine verabredet, und vermutlich würde ihre Freundin Christiane Schachert ebenfalls kommen. Mit Neuigkeiten, wie sie am Telefon gesagt hatte. Entsprechend gespannt stieg Marie-Claire an der Urania in die Straßenbahn. Zehn Minuten später betrat sie das Eck-Café im Gebäude der Börse am Inneren Ring. Cathrine ging hier regelmäßig hin, weil ihr Mann Christoph beruflich an der Börse zu tun hatte.
Womit Christoph letztendlich sein Geld machte, konnte Marie-Claire nicht so recht sagen. Wann immer er davon sprach, überschüttete er sie mit einem derart verwirrenden Fachchinesisch, dass sie es längst aufgegeben hatte, irgendetwas davon verstehen zu wollen. Sie wusste nur eins: Christoph schwamm in Geld – und seine Ehefrau Cathrine somit auch. Das aber war seit Jahren das Einzige, was die beiden noch gemeinsam hatten. Die Ehe von Cathrine und Christoph war kaum mehr als ein Interessenverband. Er war fast sechzig Jahre alt, und er war wirklich alt. Cathrine war erst einundvierzig und sah noch sehr jung und attraktiv aus. Ihr Mann interessierte sich für Geld – und zwar ausschließlich dafür. Cathrine hatte mit den Jahren gelernt, dass sie mit Geld ihre Interessen befriedigen konnte. Davon gab es nicht viele: Kleider, Schmuck – und Reisen. Auf ihren Reisen holte Cathrine das nach, was Christoph ihr weder geben wollte noch geben konnte. Ein bisschen Liebe, Zärtlichkeit, Sex. Cathrine saß im hinteren Raum des Tri-Café. Wie immer war das Café in der Mittagszeit mit Börsianern überfüllt. Sie sahen alle gleich aus. Die Männer im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren trugen dunkle Anzüge und schienen ein Faible für rosafarbene Hemden und glänzende Gel-Frisuren zu haben. Die Frauen hatten entweder Hosenanzüge oder viel zu kurze Röcke an. Alle besaßen mindestens zwei Handys, die selbst in der Mittagszeit ständig rappelten. Cathrine trug ein umwerfend schickes Kleid, das ihre schlanke, feminine Figur unterstrich. Da sie Cathrines Lieblingsboutiquen in der Stadt kannte, ahnte Marie-Claire, dass dies eins der Dreitausend-Euro-Kleidchen war, von denen die Kleiderschränke ihrer Schwester in der Villa im dreizehnten Bezirk überquollen.
»Schwesterchen, du siehst umwerfend aus!«, begrüßte sie Cathrine und umarmte sie liebevoll. Sie freute sich wirklich, Cathrine wieder einmal zu sehen. In der Hektik der letzten Wochen hatten sie fast nur noch telefonisch Kontakt gehalten. Cathrine wusste zwar so ziemlich alles, was geschehen war, aber ihre Neugierde entlud sich sofort.
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