Dieser Mann heute Vormittag hatte ebenfalls eine kurze Hose und ein ärmelloses Shirt getragen. Auffällig war lediglich seine große Tasche gewesen, in der Faisal schließlich einen Laptop vermutet hatte. Er hatte den dicklichen Mann nur für Bruchteile von Sekunden gesehen. Das war wenige Minuten nachdem er von der Avenue de la Ménaa durch das Bab el-Djedid in die kleine Seitengasse an der Kutubiya-Moschee gegangen war. Hier ließ sich Faisal regelmäßig bei seinem Stammfriseur rasieren, trank dabei einen Tee und las die Zeitung. Meistens hielt er danach noch ein kleines Schläfchen. Heute war er zunächst jedoch zu beschäftigt gewesen, hatte er doch dringend zum Postbüro am Place du 16 Novembre gehen müssen, um dafür zu sorgen, dass sein Freund diese verdammte Kreditkarte per DHL oder Fedex schnell bekommen würde. Auf dem Rückweg war ihm dieser Europäer erneut aufgefallen. Vielleicht weil sich der Mann nicht so ängstlich durch die Medina bewegte. Faisal hätte nicht weiter darüber nachgedacht, wenn er diesen Mann mit dem südländischen Teint und der schwarzen Umhängetasche soeben nicht ein drittes Mal gesehen hätte. Auffällig war auch, dass dieser Mann jetzt, zur Mittagszeit, durch die Medina ging. In einer Zeit, in der kaum ein Tourist unterwegs war. Die saßen um diese Uhrzeit meist beim Lunch im Luxushotel La Mamounia oder an den Swimmingpools in den modernen Hotels drüben in Marrakesch Nouvelle. Es waren nur einige Augenblicke gewesen, dann war der Fremde mit der ungewöhnlich selbstbewussten Haltung in einer Seitengasse verschwunden.
Kurz darauf stand Faisal Jawda wieder vor dem Friseurgeschäft. Wie erwartet hatte Moussa in der Mittagszeit nichts zu tun. Er war nicht da, aber sein Laden war auf. Die drei Sessel in dem kleinen Raum mit den blauen Türen und Fenster waren unbesetzt, und auch die beiden Sessel unter dem großen Eukalyptusbaum waren frei.
Faisal Jawda freute sich. Er saß sehr gerne hier draußen im Schatten des riesigen Baumes, las Zeitung, trank seinen Chai und nutzte die halbe Stunde der Rasur, um sich zu entspannen. Danach stand ihm heute der Sinn. Im Moment lief nicht alles nach Plan. Ständig geschah etwas, das ihren Zeitplan durcheinander brachte. Vorgestern noch hatte ihr guter Freund und Bruder Ismail vom Innenministerium in Rabat für große Aufregung gesorgt, weil er sie darüber informiert hatte, dass auffällige Aktivitäten bei Interpol in Lyon zu beobachten seien. Eine Terrorismus-Sonderkommission war dort eingerichtet worden, die strengster Geheimhaltung unterlag, und daher kam ihr Verbindungsmann auch an keinerlei Information.
Trotz dieser beunruhigenden Nachricht sah es jedoch ganz so aus, als ob ihre Aktion schon in Kürze abgeschlossen werden würde. Und zwar erfolgreich! Was sollte schon noch passieren? Sobald die anderen wieder aus Wien zurück in Marrakesch wären, würden vermutlich kaum mehr als zwei Wochen vergehen, bis sie die Stadt verlassen konnten – mit viel Geld auf einem Schweizer Bankkonto.
Faisal Jawda setzte sich auf den bequemen Friseursessel unter dem Baum, kippte ihn nach hinten, kramte eine alte Zeitung aus seiner Jackentasche und legte sie sich aufs Gesicht. Die Dezembersonne ließ ihn schläfrig werden. Er nahm den Ruf des Muezzin von der nahen Kutubya-Moschee nur noch im Unterbewusstsein wahr, fühlte sich mit einem Mal sehr entspannt und entschied gerade, einen Mittagsschlaf zu halten, als kräftige Männerhände sich plötzlich von hinten um seinen Hals legten und zudrückten. Panisch riss er die Augen auf. Er wollte sich aufrichten, aber die Hände pressten ihn mit enormer Kraft zurück in den Sessel. Der Druck um seinen Hals verstärkte sich. Seine Angst artikulierte sich in einem furchterregenden, kehligen Schrei. Mit aller Kraft stürzte er nach vorne. Der Druck um den Hals war weg. Er wirbelte herum und ging geduckt in Angriffsstellung, bereit, den Angreifer abzuwehren.
»A Salemaleikum, du Schurke! Was fällt dir ein, dich hier mit deinem von Allah gestraften Körper und Geist so einfach auf meinen edlen Liegesitzen niederzulassen!«
Faisal Jawda verdrehte ungläubig die Augen. Es fiel ihm schwer zu lachen. Noch immer zitterten seine Hände. Vor ihm stand sein Freund Moussa, der fettleibige und stets grinsende Besitzer des Ladens. Ein gutmütiger Riese, der keiner Fliege der Welt etwas zuleide tun konnte, der aber eine höchst eigentümliche Vorliebe für Scherze dieser Art hatte. Faisal atmete tief durch. Warum bist du bloß so panisch?, fragte er sich. Es ist doch alles in Ordnung. Weit und breit war kein Fremder zu sehen, nichts Ungewöhnliches war geschehen. Als er sich wenige Minuten später wieder in den Sessel legte und schließlich tief und fest einschlief, löste sich aus dem Schatten eines nahen Torbogens eine männliche Gestalt und verschwand blitzschnell in einer Nebengasse. Der Mann trug helle Baggyshorts und ein T-Shirt.
Zehn Minuten später stieg derselbe Mann aus einem Renault-4-Kastenwagen auf dem Parkplatz nahe des Bab Douckala. Er war nicht wiederzuerkennen. Er trug jetzt die weiten, stahlblauen Gewänder der hommes bleus der Wüste. Kopf und Gesicht waren mit einem schwarzen Tuch umwickelt, so wie es die Tuareg in den Wüsten der Sahara im Süden Marokkos zu tun pflegten. Nur seine Augen waren noch zu sehen. Es waren die dunklen, unergründlichen Augen, die viele Sarden haben.
Für einen Targi war Carlo Frattini allerdings verhältnismäßig klein, aber er fühlte sich wie einer dieser »Söhne des Windes«, wie diese Wüstennomaden in jenem Buch genannt wurden, das er sich vor seinem Abflug von Rom nach Marrakesch gekauft hatte. Er liebte dieses Buch, verschlang es geradezu, sog jede Zeile in sich auf. Zweimal hatte er den Roman Tuareg von Alberto Vasquez-Figuera bereits gelesen. Viele Tipps hatte er sich aus diesem Buch geholt. Auch die Idee, sich in Marrakesch wie ein Targi zu verkleiden, war ihm durch dieses Buch gekommen. In einem Souvenirladen in der Altstadt hatte er sich alle erforderlichen Kleidungsstücke gekauft, ein großes Schwert und auch ein kleines Messer, das, so hatte er gelesen, jeder Targi versteckt im Ärmel seines Gewandes trug. Selbst Sandalen mit Lederriemen hatte er dort kaufen können. Jetzt fühlte er sich fast wie Gacel Sayah, die Hauptfigur aus dem Roman.
Noch nie in seinem Leben hatte er ein Buch gelesen, das den Hass eines Menschen und die daraus resultierenden Rachegefühle auf so nachvollziehbare Weise beschrieb. Dieser Targi hatte alles aufgegeben, seine Heimat verlassen, war bereit, sein Leben zu geben, um die besudelte Ehre seiner Familie, den Tod seiner Frau zu rächen. Ja, der Targi in diesem fantastischen Buch dachte, fühlte und handelte wie er, Carlo Frattini aus dem kleinen sardischen Ort Lu Fraili, Sohn des von diesen hier in Marrakesch lebenden Männern getöteten Leonardo Frattini – einem alten Museumswärter im Palazzo Pitti von Florenz.
Von heute an würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis er die Vendetta vollenden könnte. Die Täter hatte er ausgemacht. Die Angaben des kleinen Araberjungen hatten sich als sehr genau und wahr erwiesen. Alles andere hatte er über seine Kollegen und Freunde in Erfahrung gebracht. Drei der vermutlich insgesamt sechs Araber hatte er gestern gesehen. Sie wohnten etwa zehn Kilometer außerhalb von Marrakesch in zwei Wohnungen auf dem Terrain einer noblen Wohnanlage nahe eines Golfclubs. Der Mann, den er heute observiert hatte, war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einer derjenigen, die in Deutschland mit dabei gewesen waren. Die vorliegenden Personenbeschreibungen ließen diesen Verdacht zu. Drei Araber waren gestern verreist. Wohin, das hatte er nicht herausfinden können. Wann sie zurückkommen würden, war ihm egal. Er hatte Zeit. Und Geduld. Für jeden einzelnen dieser Mistkerle würde er, der Targi Gacel Sayah alias Carlo Frattini, sich Zeit nehmen. Wenn es sein musste, ein ganzes Leben lang. Alle würden sie sterben – ohne zu wissen, wer sie getötet hatte.
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