Jensen glaubte, er habe sich verhört. Noch nie in seinem Leben war ihm ein derart borniertes Arschloch über den Weg gelaufen, und er wusste nicht, ob er lachen, losbrüllen oder seinem Vorgesetzten schlicht und ergreifend an die Gurgel gehen sollte. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, gab Jensen ungerührt zurück. »Und viel Glück bei der Suche nach einem Kriegsgericht.«
Einen kurzen Moment lang kehrte Stille ein, und es schien, als wolle das Echo von Jensens Stimme nicht verklingen.
Dann zog von Oertzen seine Dienstpistole. »Was war das da gerade eben?«, kläffte er und richtete die Waffe direkt auf Jensens Stirn. »Sag das noch mal, du friesischer Dorftrottel.«
Sein Kontrahent verzog keine Miene, wenngleich er innerlich vor Wut kochte. Auf sein Heimatdorf, nur einen Katzensprung von Emden entfernt, ließ er nichts kommen. Wenn ihn jemand auf die Palme brachte, dann Leute, die über die Friesen herzogen. »Falls es Ihnen nichts ausmacht«, gab Jensen mit vorgetäuschtem Gleichmut zurück, »würde ich es vorziehen, wenn wir uns weiter siezen.«
»Auch noch frech werden, das hab ich gern.« Die Hand am Abzug seiner Luger 08, bebte von Oertzen vor Zorn. »Zu Ihrer Information, Jensen: Ich hätte die drei Grünschnäbel sowieso liquidiert. Diesbezüglich sind die Weisungen, die mir der Reichsführer erteilt hat, glasklar.« Die Mimik von SS-Standartenführer Hans-Hinrich von Oertzen fror buchstäblich ein, und ein eisiger Blick beherrschte sein Gesicht. »Und darum, Sie impertinenter Klugscheißer, werden Sie jetzt den Weg freigeben und nicht weiter den barmherzigen Samariter spielen. So dumm, es sich mit mir zu verderben, sind nicht einmal Sie. Hab ich recht?«
»Und wenn nicht?«
»Dann werde ich Sie auf der Stelle über den Haufen schießen, Jensen. Und als Nächsten diesen Milchbubi da.«
»An Ihrer Stelle würde ich das besser bleiben lassen, von Oertzen. So, und jetzt runter mit der Pistole, sonst jage ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf.«
Curt Holländer, der sich seinem Vorgesetzten von hinten genähert hatte, meinte es ernst. Das merkte von Oertzen genau. Wütend auf Jensen, sich selbst und vor allem Holländer, der die Stirn besaß, sich gegen ihn aufzulehnen, ließ er die Waffe aus der Hand gleiten und knurrte: »Dafür werden Sie büßen, Holländer. So wahr ich Hans-Hinrich von Oertzen heiße.«
»Vorausgesetzt, Sie bekommen die Gelegenheit dazu«, parierte Holländer, stellte die Karbidlampe auf einen Felsblock und bückte sich blitzschnell nach der Waffe. »Doch so dumm, sich es mit mir zu verderben, sind nicht einmal Sie, oder?«
»Wenn ich Sie erwische, Holländer, können Sie Ihr Testament machen.«
»Nach Ihnen, Herr Standartenführer, nach Ihnen.« Gänzlich unbeeindruckt steckte Holländer die Luger in seinen Gürtel und drückte von Oertzen die Mündung seiner Mauser so heftig in den Nacken, dass dieser unwillkürlich zusammenzuckte. »Die Karte, von Oertzen, aber ein bisschen plötzlich.«
»Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Vaterlandsverräter.«
»Die Karte, oder ich muss zu anderen Methoden greifen, du Schrumpfgermane.«
»Ich hab’s ja gleich gewusst!«, knirschte von Oertzen, außer sich vor Wut. »Aber der Reichsführer wollte ja nicht auf mich hören. ›Fachleute‹ – wenn ich das schon höre. Ein Sprengstoffexperte und zu allem Überfluss auch noch ein Kunsthistoriker. Verlässliche Parteigenossen wären mir wesentlich lieber gewesen. Lieber jedenfalls als zwei raffgierige Verräter, die nichts Besseres im Sinn haben, als sich auf schamlose Weise zu bereichern.«
»Drei, Standartenführer, drei.« An Benjamin Kempa, der wie aus dem Nichts auftauchte, hatte keiner der drei auch nur einen Gedanken verschwendet. Das sollte sich ändern, weit mehr, als es von Oertzen lieb sein konnte. »Die Karte, Sie Menschenschinder«, fuhr der Dresdener ihn an, ließ sich von Holländer die Luger aushändigen und blieb neben dem Paladin Himmlers stehen. »Sie haben richtig gehört«, karrte der sonst so zurückhaltende, mindestens um einen Kopf kleinere Spezialist für das Bergwerkswesen nach. »Die Planskizze von Schwalbe V, aber zackig!«
»Dafür werden Sie mir büßen, Kempa«, grollte von Oertzen und förderte aus der Innentasche seiner Uniformjacke einen aus vier Blättern bestehenden Faltplan zutage. »Das garantiere ich Ihnen.«
»Nicht so voreilig, von Oertzen, sogar Sie werden auf Ihre Kosten kommen.« Zum Entsetzen seiner Kameraden, die ihn wie eine Erscheinung aus dem Jenseits anstarrten, ließ sich Benjamin Kempa die Karte aushändigen, warf einen Blick darauf und zerriss sie anschließend in vier Teile. »So, das wäre geschafft«, stellte er aufatmend fest und gab ein schrilles Kichern von sich. Im Schein der Karbidlampe sah er wie ein dem Erdreich entstiegener Kobold aus, und es schien, als sei er nicht mehr ganz richtig im Kopf. »Alles brüderlich geteilt!«, rief er freudestrahlend aus. »Damit mir nur ja niemand auf falsche Gedanken kommt.«
Über das Gesicht des SS-Sturmbannführers huschte ein hinterlistiges Grinsen, und ehe es sich Holländer versah, spürte er die Mündung der Luger an seiner Schläfe. »So leid es mir tut, lieber Curt –«, stieß er achselzuckend hervor, neigte den Kopf zur Seite und blinzelte Holländer treuherzig an, »um ganz sicherzugehen, benötige ich deine Waffe.«
»Sag mal, hast du eigentlich noch alle Tassen …?«
»Mein Problem, Herr Obersturmbannführer a. D.«, fauchte Kempa zurück, entwand Holländer die Waffe und warf sie Ole Jensen zu. »Und jetzt mach, dass du fortkommst, Professor, bevor ich dir eine Kugel durch den Kopf jage.«
»… im Schrank, Kleiner?«, schrie Holländer, drauf und dran, sich auf Kempa zu stürzen. Doch dann, im Angesicht der entsicherten Waffe, besann er sich, funkelte seinen Kontrahenten an und wich mit erhobenen Händen zurück. »Solltest du mir jemals wieder über den Weg laufen«, schäumte er, den Zeigefinger drohend in die Höhe gereckt, »werde ich dir die Rechnung präsentieren, Benjamin.« Im Anschluss daran spie er aus, machte kehrt und sah zu, dass er davonkam.
»So, Herr Standartenführer«, wandte sich Kempa daraufhin wieder seinem Vorgesetzten zu. »Jetzt zu Ihnen. Da ich Tierliebhaber bin, werde ich mich damit begnügen, Sie eine Weile in Schach zu halten. Damit sich unser gemeinsamer Freund Jensen endlich um unseren verletzten Kameraden kümmern kann. Zufrieden, Ole?«
Kempas Frage verhallte ungehört, und es verging fast eine Minute, bis der Dresdener eine Antwort bekam.
»Wie man’s nimmt, Benjamin«, erhob sich Jensens Stimme, gedämpft und so kraftlos, dass Kempa erschrocken zusammenfuhr. »Melde gehorsamst, Herr Ingenieur: Der arme Teufel hat’s hinter sich.«
*
»Da geht er hin und kehrt nie wieder«, brummte Ole Jensen missvergnügt vor sich hin, nachdem von Oertzen im Schutz der Dunkelheit verschwunden war. »Ich glaube, das war ein Fehler, Benjamin.«
»Ihn einfach so entwischen zu lassen, meinst du?« Benjamin Kempa trat frierend auf der Stelle und blieb seinem Kameraden die Antwort schuldig. Es war kalt hier draußen, lausig kalt sogar. Am Fuße des Steilhangs, der unmittelbar ans Ufer der Elster grenzte, herrschte Totenstille, und der Eingang zum Stollen 1 sah wie das Tor zur Unterwelt aus. Aus der Ferne drang Geschützlärm an sein Ohr, die Zeit, so schien es, lief ihnen unweigerlich davon. Spätestens morgen früh, vielleicht aber auch schon in ein paar Stunden, würden die Amerikaner anrücken. Bis dahin musste die Operation Alberich beendet, die Spuren ihres Tuns beseitigt sein. »Sei’s drum, wir machen uns besser auf die Socken.«
»Scheiß Bergwerk, verdammtes.«
»Das kannst du laut sagen«, stimmte Kempa zu und verfiel in dumpfes Brüten. Dann blickte er auf, lächelte und sagte: »Na ja, wenigstens bist du auf die Art noch zu einer neuen Uniform und einem Paar ausgelatschter Stiefel gekommen. Wirklich schick, Ole, wie aus dem Ei gepellt.«
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