Ein Fehler, wie er größer nicht hätte sein können.
»Beende Sinkflug. Flughöhe: 2.000 Meter. Noch 60 Sekunden bis zum Absprung.«
Slavín holte tief Luft. In ein paar Minuten wäre alles vorbei und er, wie geschaffen für Himmelfahrtskommandos, längst über alle Berge. Dafür würde sein Kontaktmann sorgen, auf den er sich blind verlassen konnte. Auch hier hatte Slavín nichts dem Zufall überlassen, nicht umsonst hatte er als einer der versiertesten Agenten der UdSSR gegolten.
»30 Sekunden bis zum Absprung.«
»Und Sie wollen mir wirklich nicht sagen, was die ganze Aktion hier …«
»Bedaure, Genosse, streng geheim.« Allein schon die Art, wie Slavín dies sagte, hätte genügt, um misstrauischere Gemüter aufhorchen zu lassen. Da er jedoch ein schlichtes Gemüt besaß, war der Kopilot völlig arglos, blind für die Vorzeichen der nahenden Katastrophe. »Wenn Sie jetzt bitte so gut wären, beiseitezutreten. Damit Ihnen nichts zustößt, meine ich.«
»20, 19, 18 …«
»Möchte wissen, wie wir das dem verantwortlichen Genossen beibringen wollen«, beharrte der Balte und dachte offenbar nicht daran, Slavín den Weg freizugeben.
»Was denn?«
»Na, das mit dieser Aktion hier. 4.000 Kilometer hin und zurück, und keiner weiß, warum.«
»Wissen Sie was, Genosse?«, fragte Slavín, ein Lächeln im Gesicht, das hinsichtlich seiner Durchtriebenheit seinesgleichen suchte.
»Nein.«
»Zehn, neun …«
»Sie haben noch genau eine Minute Zeit, um darüber nachzudenken«, beschied Ex-Major Wassili Danilowitsch Slavín den naseweisen Litauer, lachte kurz auf und sprang mit ausgebreiteten Armen in die Tiefe.
Knapp 60 Sekunden danach, in Sichtweise seines Landeplatzes, den er nur um wenige Hundert Meter verfehlen sollte, breitete sich sein Fallschirm aus, worauf der ehemalige NKWD-Offizier den Zünder aktivierte, der am Gürtel seines Tarnanzuges befestigt war.
Einen Atemzug später, auf die Sekunde genau eine Minute nach seinem Sprung, glühte am Himmel ein grellroter Feuerball auf, und die Trümmer der Iljuschin Il-12T, glühend rot wie emporgeschleuderte Magma, stürzten vom graublauen Himmel herab.
Sehr zur Freude von Slavín, der ohne jegliche Blessuren auf dem Boden aufsetzte, sich seines Fallschirms entledigte und in einem nahegelegenen Wäldchen verschwand.
27
Ostberlin, zwischen ehemaligem Kaufhaus Wertheim und Potsdamer Platz | 12.05 h
Es war der Mut der Verzweiflung, der sie trieb. Demzufolge hatten sie auch keine Angst. Weder vor den Stasi-Schlägern, die mit Knüppeln auf sie losgingen, noch vor den Vopos, die wahllos in die Menge feuerten, erst recht nicht vor den russischen Panzern, mochte deren Anblick auch noch so bedrohlich sein. Die Demonstranten, unter ihnen zahlreiche Arbeiter, Lehrlinge und Frauen, erhoben drohend die Fäuste, schrien die Wut heraus. So leicht, wie es sich die Russen und ihre Lakaien von der SED gedacht hatten, würden sie es diesem Pack nicht machen.
Und so bildeten sie eine Front gegen die russischen Panzer, ohne jede Furcht vor dem Rasseln ihrer Ketten, dem Dröhnen ihrer Motoren, den hin und her schwenkenden Geschütztürmen. Die Tausenden Demonstranten auf der Leipziger Straße hatten nichts mehr zu verlieren, und so traten sie auch auf. Verbittert, zornig und wütend. Entschlossen, ihre Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Am heutigen Tage, dies war allen klar, würde sich das Schicksal ihres Landes und ihr ganzes weiteres Leben entscheiden. Genau deshalb waren sie hier.
Kaum waren die stählernen Kolosse aufgetaucht, flogen die ersten Steine. Es gab Schmährufe zuhauf, Pfiffe ertönten, anti-sowjetische Parolen wurden skandiert, die herbeieilenden Vopos mit Schimpfwörtern überhäuft. Auf die Besatzung der olivgrünen T-34 Panzer, jeder von ihnen über 30 Tonnen schwer, schien dies jedoch keinen Eindruck zu machen. Als gäbe es die Demonstranten nicht, rollten sie weiter Richtung Potsdamer Platz, dorthin, wo die Sektorengrenze verlief. Doch die sowjetischen Besatzer hatten die Rechnung ohne die zu allem entschlossenen Demonstranten gemacht. Ein wahrer Geschosshagel setzte ein, und es gab nicht wenige, die auf die Panzer kletterten, die Gehäuse mit ihren Fäusten traktierten oder gar ihre Antennen abknickten. Die Mutigsten unter ihnen eilten mit Feuerlöschern herbei, spritzten den Schaum in die Sehschlitze hinein. Der Aufruhr hatte seinen Höhepunkt erreicht. Die Erhebung, mit der sich so viele Hoffnungen verbanden, stand auf des Messers Schneide.
Höchstens noch 100 Meter von der Sektorengrenze entfernt, blieb Tom Sydow stehen und fuhr herum. Es war genauso gekommen wie befürchtet. Genauso, wie er es vorhergesehen hatte. Wahrlich kein Grund, auf seine prophetischen Gaben stolz zu sein. Eher ein Anlass, um aus der Haut zu fahren. Sydows Gesicht rötete sich vor Zorn, und der Impuls, welcher in diesem Moment Besitz von ihm ergriff, ließ ihn den Grund, weshalb es ihn nach Ostberlin verschlagen hatte, vergessen. Mit der Bekämpfung von Randalierern, Rowdys und Schlägern hatte dies hier wirklich nichts zu tun. Dies hier war ein Akt der Verzweiflung. Der Versuch, das Joch der Unterdrückung abzuschütteln, diejenigen loszuwerden, die dabei waren, das gesamte Land zu ruinieren.
Weshalb sich Sydow nicht in Sicherheit brachte, wusste er zunächst selbst nicht so genau. Schließlich hatte er allen Grund, möglichst schnell das Weite zu suchen. Trotzdem konnte er seinen Blick von den beiden T-34 Panzern, die nur noch 50 Meter von ihm entfernt waren, nicht abwenden. Nicht davon und auch nicht von den beiden jungen Männern, die den Mut aufbrachten, sie mit Steinen zu bewerfen. Einer nach dem anderen, als gäbe es die todbringende 85-mm-Kanone, welche sie und die Umstehenden auf der Stelle in Stücke reißen würde, überhaupt nicht.
Sydow konnte sich einfach nicht losreißen, wie elektrisiert von der denkwürdigen Szenerie. Er sah die beiden jungen Männer, hörte die aufmunternden Rufe der übrigen Passanten, roch das Dieselöl, welches durch den Auspuff der russischen Panzer drang, nur eines sah er nicht: die Vopos, die dabei waren, auf der gegenüberliegenden Straßenseite Position zu beziehen. Hätte er sie rechtzeitig bemerkt, wäre er natürlich in Deckung gegangen. So aber blieb er einfach stehen, den Salven, die in diesem Moment abgefeuert wurden, schutzlos ausgeliefert.
Bei der Kugel, die ihn kurz darauf traf, handelte es sich um einen Querschläger, der seinen Vordermann nur knapp verfehlt, vom nahen S-Bahn-Schild abgeprallt und seinen linken Oberschenkel gestreift hatte. Sydow verspürte einen stechenden Schmerz, dann wurde ihm auch schon schwarz vor Augen und er verlor das Gleichgewicht. Durch die Menge der Schaulustigen, die das Geschehen vom Potsdamer Platz aus verfolgte, ging ein Aufschrei des Entsetzens, wovon Sydow allerdings kaum etwas mitbekam. Die Hand an den Oberschenkel gepresst, lag er zusammengekrümmt am Boden, während einer der beiden Panzer plötzlich ausscherte und sich wie ein vorsintflutliches Ungeheuer auf ihn zubewegte. Die Luft erzitterte vom Dröhnen seiner Ketten, ein Geräusch, das die aufgeregten Rufe der Umstehenden, ja sogar alle übrigen Laute erstickte. Es war totenstill, und er, Tom Sydow, dem drohenden Schicksal hilflos ausgeliefert.
Das hast du nun davon!, schoss es ihm durch den Kopf. Ein paar lumpige Meter noch und er wäre in Sicherheit gewesen. In letzter Sekunde, halb ohnmächtig und zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, rappelte sich Sydow schließlich auf. Ohne die kräftigen Arme, die sich im gleichen Moment unter seine Achseln schoben, ihn emporrissen und im Eiltempo mit sich fortschleiften, wäre er dazu jedoch kaum fähig gewesen. Sydow war wie benebelt, und so nahm er die Sanitäter, die sich wenige Minuten später seiner annahmen, kaum wahr. Er war in Sicherheit, viel mehr konnte er an einem Tag, an dem sein Leben gleich mehrfach in Gefahr geraten war, anscheinend nicht erwarten.
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