Doch so einfach, wie er sich das dachte, lagen die Dinge wahrscheinlich nicht. Ole Jensen konnte das Unheil förmlich riechen, lange bevor es über ihn, die Sondereinheit Alberich und die drei Lkw-Fahrer, die beim Transport des Zimmers mit eingespannt worden waren, hereinbrach.
Die Bahngleise, auf denen ein ausrangierter Tankwagen, Treibstoffbehälter und leere Ölfässer vor sich hinrosteten, waren bereits in Sichtweite, als Ole Jensen bemerkte, wie die Wände des Stollens urplötzlich in Bewegung gerieten. Nicht weiter schlimm!, machte er sich selbst Mut, so was kommt hier bestimmt öfter vor. Ein Blick auf Kempa, seinen Vordermann, überzeugte ihn vom Gegenteil. Der introvertierte Dresdener begann nämlich zu rennen, zumindest sah es so aus. Viel weiter als ein paar Meter kam er allerdings nicht, und was als Fluchtversuch begonnen hatte, wurde zu einer kläglichen Pantomime. Der Bergwerksingenieur stöhnte leise auf, zog die Schultern ein und blieb stehen.
Jetzt mach schon, du Idiot!, schoss es Jensen durch den Kopf, doch bevor er seinem Unmut Luft machen konnte, war es bereits zu spät.
»Wassereinbruch!«, schrie Kempa mit sich überschlagender Stimme, kurz bevor das Inferno über sie hereinbrach.
Erst im letzten Moment, für den Rest des Trupps viel zu spät, setzte sich Kempa in Bewegung, gefolgt von Jensen, der Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Holländer und von Oertzen waren da wesentlich besser dran, ihnen und den Lkw-Fahrern, drei blutjungen Wehrmachtsgefreiten, um mindestens 20 Meter voraus. Jensen sah weder nach rechts noch nach links, duckte sich und rannte um sein Leben. Das dumpfe Grollen aus dem Inneren des Berges nahm zu, wurde zu einem Rumpeln, am Ende gar zu einem Krachen, wie bei einer Kollision zweier Lokomotiven. Kurz darauf, nicht einmal einen Atemzug später, war es so weit. Die Decke über ihnen begann zu bröckeln, und ehe sich Jensen versah, schoss eine Wasserkaskade daraus hervor. Nass bis auf die Haut, rannte der baumlange Friese weiter, folgte den Bahngleisen, geriet ins Stolpern und lief wie von Furien gehetzt auf den Ausgang des Stollens zu, ohne einen Blick für seine Kameraden, die ihm im Abstand von wenigen Schritten folgten.
Innerhalb weniger Sekunden, die Jensen wie eine Ewigkeit vorkamen, sollte sich das ändern. Der Stollen, den er gerade hinter sich gelassen hatte, brach zusammen. Eine nicht enden wollende Gerölllawine rollte heran, zermalmte, zerquetschte und zerdrückte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Tonnenweise Staub, scharfkantige Splitter und Gesteinsbrocken wirbelten durch die Luft, wie nach einer gewaltigen Explosion. Keuchend vor Anstrengung, rannte Jensen um sein Leben. Doch das Glück war ihm hold. Außer ein paar Kratzern, reichlich Staub auf der Uniform und einem Hustenanfall, der ihn mehrere Minuten außer Gefecht setzte, war der SS-Sturmbannführer mit heiler Haut davongekommen.
Nicht so die drei Gefreiten, die sich an Jensens Fersen geheftet hatten. Zwei von ihnen waren wie vom Erdboden verschluckt, irgendwo unter dem Schutthaufen begraben, der den Seitenstollen fast komplett ausfüllte. Der dritte lag leblos am Boden, nur der Oberkörper ragte aus einem riesigen Geröllhaufen hervor. Er gab keinerlei Lebenszeichen mehr von sich, bewegte sich nicht, wimmerte nicht, atmete nicht.
Oder etwa doch? Immer noch unter Schock, beugte sich Jensen vornüber und rang nach Luft. Das Klügste wäre gewesen, so schnell wie möglich abzuhauen, und die Versuchung, genau das zu tun, drohte übermächtig zu werden. Zu seinem Erstaunen trat jedoch das genaue Gegenteil ein. Er kehrte um. Jensen kannte sich selbst nicht mehr, tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Auf so eine blöde Idee konnte wirklich nur er kommen, die Quittung dafür würde bestimmt nicht lange auf sich warten lassen.
Nur noch drei Schritte von der Geröllhalde entfernt, horchte der Friese auf.
»Hilf mir, Kamerad!«, hallte es ihm aus dem Halbdunkel entgegen, »mich hat’s erwischt.«
Na, du machst mir vielleicht Spaß!, dachte Jensen, stellte seine Grubenlampe ab und ging neben dem blutjungen Gefreiten in die Knie. Dessen Atem ging unregelmäßig, der Kopf war zur Seite geneigt, die Pupillen verdreht, der Mund halb offen. Blut trat hervor, anfangs nur ein kleines Rinnsal, wenig später ein regelrechter Strom. Jensen schauderte, der Anblick ging ihm unter die Haut. Man musste kein Experte sein, um zu erkennen, dass der arme Teufel keine Chance hatte, wenngleich er sich mit aller Macht gegen sein Schicksal sträubte.
Und dennoch: Jensen konnte sich nicht dazu durchringen, ihn einfach liegen zu lassen.
»Wie heißt du, mein Junge?«, fragte er und kannte sich beinahe selbst nicht mehr.
»Fröhlich.«
»Das weiß ich«, entgegnete Jensen und nickte dem höchstens 18 Jahre alten, dunkelblonden und hoch aufgeschossenen Lkw-Fahrer, mit dem er bisher keine drei Sätze gewechselt hatte, aufmunternd zu. »Mit Vornamen, meinte ich.«
»Karl.«
»Hör zu, Karl – ich denke, es ist am besten, wenn du so wenig wie möglich sprichst und dich nach Möglichkeit überhaupt nicht be…«
Der Rest des Satzes ging im qualvollen Stöhnen von Fröhlich unter. »Geben … geben Sie sich keine Mühe, Sturmbannführer«, presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Mit mir geht’s zu Ende.«
»So was darfst du nicht sagen, Kamerad«, widersprach Jensen, insgeheim eher vom Gegenteil überzeugt. Nach Lage der Dinge hatte Fröhlich schwerste innere Verletzungen erlitten, kein Wunder angesichts der Felsbrocken, zwischen die der arme Tropf geraten war. »Nicht bewegen, das ist jetzt das Wichtigste.«
»Sehen … sehen Sie die Kette an meinem Hals?«, flüsterte der Gefreite, dermaßen leise, dass Jensen ihn beinahe nicht mehr verstand und so dicht wie möglich an den Sterbenden heranrückte. »Die habe ich von meiner Mutter.«
Jensen nickte, und obwohl er glaubte, ihn könne nichts mehr erschüttern, spürte er einen faustdicken Kloß im Hals.
»Sind Sie so gut und tun mir einen Gefallen?«
»Jeden, mein Junge, jeden«, hörte sich Jensen sagen und wurde das Gefühl nicht los, dass er dabei war, eine Riesendummheit zu begehen. »Schieß los.«
»Bringen Sie das Medaillon meiner Mutter zurück? Berlin-Kreuzberg, Großbeerenstraße Nummer …«
»Schon gut, Kamerad, will sehen, was sich machen lässt«, versicherte Jensen, richtete sich auf und machte sich daran, die Kette vom Hals des todgeweihten jungen Mannes zu lösen. Nach mehreren vergeblichen Anläufen, auf die Jensen mit einem unterdrückten Fluch reagierte, war es schließlich geschafft, das Sankt-Christophorus-Medaillon in seiner Uniformjacke verschwunden. »Kopf hoch – wird schon werden.«
»Das glauben aber auch nur Sie, Sturmbannführer.« Trotz der Schmerzen, die seine zerquetschten Gliedmaßen verursachten, rang sich der Sterbende ein mattes Lächeln ab. »Und Sie werden auch wirklich tun, worum ich Sie gebeten habe?«
»Nur keine Bange, meen Jong«, versicherte Jensen, erstaunt, dass er gerade in diesem Augenblick in den Jargon seiner friesischen Heimat verfiel. »Auf mich kannst du dich verlassen. Ich werde sämtliche Hebel in Bewegung setzen, um deinen Wunsch zu …«
»Einen Scheißdreck werden Sie tun, Sie Idiot!«, bellte eine ihm bestens bekannte Stimme dazwischen. »Sonst lasse ich Sie an die Wand stellen.«
Einen Blick im Gesicht, in dem sich seine abgrundtiefe Verachtung gegenüber von Oertzen spiegelte, rappelte sich Ole Jensen auf, klopfte den Staub von seiner Uniformjacke und drehte sich um. »Seit wann«, schäumte er, kurz davor, die Kontrolle über sich zu verlieren, »seit wann ist es eigentlich verboten, sich um einen sterbenden Kameraden zu kümmern?«
»Noch so eine impertinente Äußerung«, geiferte von Oertzen, während Holländer ebenfalls kehrtmachte und seine Karbidlampe auf die beiden Streithähne richtete, »und ich lasse Sie vor ein Kriegsgericht stellen. Nur, damit Sie Bescheid wissen.«
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