Das Laufen ist ein Heilmittel für mich, wenn ich verwirrt bin; manchmal ist es das Einzige, was mir das Gefühl vermittelt, noch bei klarem Verstand zu sein. Ich ging zurück durch die menschenleeren Straßen, und die nächtliche Stadt kam mir plötzlich vor wie ein leeres Theater, wie ein Bau aus Papyrus, Schatten und Träumen. Ich machte mich daran, alles, was sich mir an diesem außergewöhnlichen Tag geboten hatte, gründlich zu durchdenken. Die merkwürdig gehemmte Atmosphäre bei den Festivitäten; die frappierende Freveltat; das Mädchen im Gefängnisblock und ihr Zorn, der wie ein Wein zu etwas Schwerem und Starkem gereift war; das nächtliche Treffen mit der angsterfüllten Königin unseres Reiches; die Begegnung mit der Amme des Königs. Und was vielleicht das Schockierendste gewesen war: der tote Junge mit den auf so brutale Weise zertrümmerten Gliedern, den man im Tod in dieser so ekelerregend perfekten Pose aufgebahrt hatte, und der Zauberspruch auf dem Stoffstreifen. Was hatten all diese Dinge, die einzelnen Ereignisse dieses Tages, miteinander zu tun? Sofern sie überhaupt etwas miteinander zu tun hatten – denn ich neige dazu, Muster zu entdecken, wo es unter Umständen gar keine gibt. Trotzdem, ich hatte da so ein Gefühl – eine Intuition, die gedanklich nicht so recht zu fassen und schwer zu definieren war, wie der schimmernde Rand einer Scherbe, die für einen kurzen Moment inmitten von Trümmern aufblitzt, im nächsten aber schon wieder verschwunden ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ergab nichts einen Sinn. Ich weiß, ich liebe es, darüber nachzudenken, dass völlig unterschiedliche Dinge unter Umständen einen überraschenden Bezug zueinander haben können – mehr wie in einem Traum oder wie in einem Gedicht als in der Realität. Meine Kollegen belächeln mich, und vielleicht tun sie das zu Recht, nur finde ich trotzdem nicht, dass die Geheimnisse, die alle Menschen haben, jemals auf so logische Weise zu ergründen sind, wie sie behaupten, dass es der Fall wäre. Nur was nutzte mir das jetzt?
Als Nächstes dachte ich über das Relief nach. Auf den ersten Blick vermittelte es Feindseligkeit gegenüber der vorangegangenen Herrschaft des Aton, die der König ererbt und überlebt und (wie durch seine öffentlichen Erklärungen, seine Handlungen und die neu errichteten Bauwerke deutlich geworden war) inzwischen zerstört hatte. Der Bildersturm war jedoch nichts Ungewöhnliches, und die eigentlich interessante Frage lautete: Warum war das Relief dem König auf eine derart vorsätzliche, sogar intime Weise zugestellt worden? Unterschwellig signalisierte das Ganze eine ernsthafte Gefahr, denn die Zerstörung der Sonnenscheibe stand für die Zerstörung der Realität. Der König war auch die Sonne. Deshalb standen die Auslöschung der Sonne und, was noch schlimmer war, die Auslöschung der königlichen Namen für die Vernichtung des Königs und der Königin im Leben nach dem Tod. Und da war noch etwas: Die regelrechte Wildheit dieser Meißelspuren kündete von enormem, beinahe schon geisteskrankem Zorn. Es war, als sei jeder Schlag des Meißels ein Einschlagen auf die unsterbliche Seele des Königs gewesen. Nur warum? Und wer war dafür verantwortlich?
Ich blickte empor zum Mond, der inzwischen tief über die Dächer und die Pylone der Tempel gesunken war und jetzt aussah wie die Lichtsichel im linken Auge des Horus. Ich musste an das alte Märchen denken, das wir unseren Kindern erzählen und in dem es heißt, dass der Mond das zerstörte linke Auge des Horus sei und von Thot, dem Gott der Schreiber und Geheimnisse, geheilt und wiederhergestellt wurde. Inzwischen wissen wir es besser – wir kennen die Ordnung und den Lauf der himmlischen Gestirne, weil wir sie lange genug beobachtet haben. Unsere Sternkalender zeichnen ihren stetigen Lauf auf und wann sie immer wieder zurückkehren, im Verlauf eines Jahres und bis in alle Ewigkeit. Und da kam mir – ganz plötzlich – ein Gedanke: Was, wenn das Relief eine sehr viel naheliegendere Bedeutung hatte? Was, wenn es Eklipse bedeutete? Vielleicht stand das Ganze für eine echte Sonnenfinsternis. Vielleicht war die Eklipse der Lebenden Sonne nur eine Metapher. Nur was, wenn das nicht stimmte? Das schien eine mögliche Verbindung herzustellen, und irgendwie gefiel mir der Gedanke. Ich nahm mir vor, mit Nacht, der alles über solche Dinge wusste, darüber zu reden.
Ich lief durch meine Straße, drückte das Tor auf und betrat den Vorhof. Thot erwartete mich, saß wachsam auf seinen Hinterbeinen, als habe er gewusst, dass ich kam, und sich darauf vorbereitet, einen gescheiten Eindruck auf mich zu machen. Tanefert hatte vor einigen Jahren darauf bestanden, dass ich ihn kaufte, weil die Straßen der Stadt für einen Medjai wie mich immer gefährlicher geworden waren. Sie behauptete zwar, sie würde ihn als Wache für das Haus wollen, aber in Wahrheit ging es ihr darum, dass ich bei meiner Arbeit besser geschützt war. Um ihr eine Freude zu machen, hatte ich zugestimmt. Inzwischen erlaubte ich mir (wenn auch nicht laut) zuzugeben, dass ich das Tier für seine Intelligenz, seine Loyalität und seine Würde liebte. Schnuppernd sog er meinen Geruch in sich auf, als könne er daraus ableiten, was sich zugetragen hatte, und dann schaute er mir mit seinem alten, sanften, herausfordernden Blick in die Augen. Ich fuhr mit der Hand durch seine Mähne, und er umtänzelte mich in der Hoffnung, noch mehr Zuwendung zu bekommen.
»Ich bin müde, mein Alter. Du hast hier gedöst, während ich da draußen gearbeitet habe …«
Er trabte zurück zu seiner Schlafstatt und machte es sich bequem, schaute wachsam mit seinen topasfarbenen Augen in die Dunkelheit, sah alles.
Ich schloss das Tor und begab mich lautlos in die Küche. Dort wusch ich mir die Füße, trank dann aus einem Tontopf etwas Wasser und aß eine Hand voll Datteln. Danach ging ich so leise, wie ich eben konnte, durch den Korridor und zog den Vorhang auf, hinter dem sich unser Zimmer befand. Tanefert lag auf der Seite, und die Rundungen ihrer Hüften und ihrer Schultern sahen aus wie eine elegante Handschrift auf einer dunklen Schriftrolle, die das Licht der Lampe schrieb. Ich zog mein Gewand aus und legte mich neben sie. Das Lederbeutelchen platzierte ich neben dem Bett. Ich wusste, dass sie wach war. Ich kuschelte mich dicht an sie, legte meine Arme um ihren warmen Körper, presste meinen Leib gegen ihren und küsste ihre glatte Schulter. In der Dunkelheit drehte sie sich zu mir, halb lächelnd und halb genervt, küsste mich und gab sich meiner Umarmung hin. Mehr als alles andere auf der Welt fühlte sich das wie mein Zuhause an. Ich küsste ihr seidig glänzendes schwarzes Haar. Was sollte ich ihr über die Ereignisse des Abends erzählen? Sie wusste, dass ich nur in den seltensten Fällen über meine Arbeit sprach, und hatte Verständnis für meine Verschwiegenheit. Sie nahm sie mir niemals übel, denn sie wusste, dass ich diese Dinge voneinander trennen musste. Nur kann sie andererseits immer sehen, was mit mir los ist: Sie erkennt an meinem Gesichtsausdruck oder daran, wie ich einen Raum betrete, dass etwas nicht stimmt oder mich bekümmert. Es durfte keine Geheimnisse geben. Also erzählte ich ihr alles.
Sie hörte mir zu und streichelte dabei meinen Arm, als könne sie damit ihre eigene Unruhe bekämpfen. Ich konnte spüren, wie heftig ihr Herz schlug – dieser Vogel ihrer Seele im grünen Baum ihres Lebens. Ich kam zum Ende meiner Geschichte, und eine Weile regte sie sich nicht, ließ sich alles ruhig durch den Kopf gehen. Dabei sah sie mich zwar an, aber irgendwie auch durch mich hindurch, so ähnlich, wie man in ein Feuer blickt.
»Du könntest ihr eine Absage erteilen.«
»Sollte ich das deines Erachtens tun?«
Ihr Schweigen war beredt wie immer.
»Dann werde ich das hier morgen zurückbringen.«
Ich hob das Beutelchen vom Boden und ließ den goldenen Ring in ihre Handfläche gleiten.
Читать дальше