An dem Stück waren auch noch mehrere andere Dinge auffällig. Erstens hatte man den Namen des Aton aus dem Stein herausgeschlagen. Das war bedeutsam, denn Namen sind Macht, und diese Schändung sollte als Drohung verstanden werden, die direkt gegen die Seele von Re gerichtet war. Zweitens hatte man auch den großen Kreis der Sonnenscheibe, das Zeichen des Lebens, unkenntlich gemacht. Aber nichts davon war ungewöhnlich, denn dieser Bildersturm war seit der Abschaffung von Echnatons Religion gang und gäbe. Weit größere Bedeutung hatte die Tatsache, dass man der gesamten königlichen Familie Augen und Nasen herausgemeißelt hatte, sodass sie im Reich der Toten weder sehen noch riechen konnten. Anchesenamuns königliche Namen hatte man ebenfalls entfernt, wie ich sah, und das war eine sehr persönliche Schändung.
Das Relief war ein paar Stunden zuvor in einer Kiste in den königlichen Gemächern aufgefunden worden, genau zu dem Zeitpunkt, da der Festakt stattgefunden hatte. Die Beschriftung der Kiste wies den Inhalt als Geschenk für den König und die Königin aus. Niemand konnte sich erinnern, wann die Kiste angeliefert worden war, und es gab keinen Beleg dafür, dass man sie am Tor zu den Königlichen Amtsstuben vorgezeigt hatte. Es schien, als wäre sie einfach aus dem Nichts aufgetaucht. Die Kiste selbst war unscheinbar – ein hölzerner Kasten, vermutlich aus Akazienholz, wie sie in Theben üblich waren und überall hergestellt wurden. Ich durchwühlte das Stroh, in dem das Relief gelegen hatte. Keine Notiz. Keine Botschaft. Das geschändete Relief war die Botschaft. Es zu beschaffen musste einige Mühe gekostet haben, denn Achet-Aton, die Stadt des Großen Horizonts, war zwar noch nicht gänzlich verödet, verfiel aber langsam wieder zu dem Staub, aus dem man sie erbaut hatte, und es reiste kaum noch jemand dorthin. Sie stand jetzt im Ruf, ein verfluchter und verwaister Ort zu sein. Zusammen mit Khay standen wir da und zerbrachen uns die Köpfe über dieses mysteriöse Objekt.
»Glaubt Ihr, es besteht eine Verbindung zwischen diesem Steinrelief und dem, was heute vor dem Tempel passiert ist, und dass beides zusammen eine Bedrohung Eurer beider Leben darstellt?«, fragte ich.
»Jedes Ereignis für sich ist beängstigend«, erwiderte sie. »Aber beides an einem Tag …«
»Zwischen dem, was sich heute zugetragen hat, und dem Auffinden dieses Reliefs muss nicht unbedingt eine Verbindung bestehen«, gab ich zu bedenken.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Anchesenamun sofort.
»Was da heute in aller Öffentlichkeit vorgefallen ist, war ein gezielter politischer Akt des Aufbegehrens. Das hier ist wesentlich persönlicher und in Eurem privaten Umfeld passiert.«
»Das klingt ein wenig vage«, meinte Khay.
»Das Erste war der geschmacklose Akt einer Gruppe, die keine anderen Möglichkeit hat, ihre Opposition und ihre Wut zum Ausdruck zu bringen. Diese Leute hatten keine anderen Möglichkeit, gegen die Mächtigen aufzubegehren, als den König während eines Festaktes mit etwas zu bewerfen. Das hatte zwar einen dramatischen Effekt, ist aber nur schwerlich der Akt mächtiger Menschen. Das sind Außenseiter, sie besitzen nicht wirklich Einfluss und leben am Rande der Gesellschaft. Das hier jedoch ist etwas ganz anderes: Das hier ist sehr viel wirkungsvoller, hat erheblich mehr Aussagekraft und ist viel raffinierter. Wer das hier getan hat, muss schreiben können, um die Macht von Namen wissen und eine Ahnung haben, welchen Effekt ein Bildersturm hat. Das hier hat nicht nur beträchtlicher Vorbereitungen bedurft, sondern auch genauer Kenntnisse der Sicherheitsmaßnahmen, die in den königlichen Gemächern herrschen. Deshalb können wir davon ausgehen, dass diese Tat hier von jemandem begangen wurde, der zur Elite gehört, aller Wahrscheinlichkeit nach zur Führungsschicht.«
»Was wollt Ihr damit unterstellen?«, fragte Khay steif.
»Dass das Stück von jemandem angeliefert wurde, der sich im Palast aufhält.«
»Das ist so gut wie unmöglich. Die königlichen Gemächer werden zu jeder Zeit aufmerksam bewacht.«
»Und trotzdem liegt das hier«, gab ich zurück.
Jetzt streckte er sein schmales Kinn in die Höhe. Er bebte vor Empörung wie ein zorniger Vogel. Doch ich sprach weiter, bevor er mir ins Wort fallen konnte. »Außerdem weiß der Täter ganz genau, was er tut«, sagte ich. »Denn das hier soll an der Stelle Angst erzeugen, an der es den größten Schaden anrichtet: in der Psyche des Königs und all derer, die ihm nahestehen.«
Beide starrten sie mich verdutzt an. Ich hatte vermutlich zu viel gesagt, als ich dem König irgendeine Form von menschlicher Schwäche unterstellt hatte. Nur war es für Etikette und politische Korrektheit jetzt zu spät.
»… das scheint der Täter sich zumindest zu erhoffen. Gehe ich recht in der Annahme, dass niemand etwas von dem hier weiß?«
Khay zog ein Gesicht, als habe er in saures Obst gebissen.
»Eje wurde in Kenntnis gesetzt. Er verlangt, über alles informiert zu werden, was in den königlichen Gemächern vorgeht.«
Eine Weile sprach keiner ein Wort.
»Du wirst bereits wissen, was ich dich jetzt fragen werde«, sagte Anchesenamun schließlich leise zu mir.
Ich nickte.
»Ihr wollt, dass ich herausfinde, wer dafür verantwortlich ist, dass Euch dieses Objekt geschickt und auf so gehässige Weise geschändet wurde.«
»Niederträchtige Menschen haben Zutritt zu den königlichen Gemächern. Diese Leute müssen identifiziert werden. Das allein reicht aber nicht. Außerdem will ich, dass du für meinen Gemahl und mich als unser – persönlicher Beschützer fungierst. Unser Bewacher. Jemand, der auf uns aufpasst. Jemand, den andere nicht sehen …«
»Ihr habt die Palastwache«, sagte ich.
»Der Palastwache kann ich nicht trauen.«
Mir war, als führe mich jeder Satz dieser Unterredung tiefer und tiefer in eine Falle.
»Ich bin nur ein einzelner Mann.«
»Du bist der einzige Mann. Und das ist der Grund, warum ich nach dir geschickt habe.«
Damit hatte sich die letzte der Türen, die mich vielleicht noch hier heraus und in das Leben, das ich für mich erwählt hatte, hätten zurückkehren lassen können, lautlos geschlossen.
»Und wie entscheidest du dich?«
Mir schossen verschiedenste Antworten durch den Kopf.
»Es wird mir eine Ehre sein, das Versprechen zu halten, das ich Eurer Mutter gegeben habe«, sagte ich irgendwann. Mein Herz krampfte sich zusammen angesichts der Konsequenzen, die diese wenigen Worte hatten.
Erleichtert lächelte sie mich an.
»Trotzdem kann ich aber meine Familie nicht im Stich lassen …«
»Vielleicht ist das ein Vorteil. Das hier muss unser Geheimnis bleiben. Du solltest also dein ganz normales Leben weiterführen und dann – …«
»Eje kennt mich aber. Andere werden von mir wissen. Ich kann nicht heimlich hier sein. Das würde mir meine Aufgabe unmöglich machen. Ihr solltet einfach behaupten, dass Ihr mich aufgrund der Drohungen, die Ihr erhalten habt, zusätzlich zur Palastwache einstellt. Sagt, dass ich als unabhängiger Sachverständiger die internen Sicherheitsmaßnahmen überprüfe.«
Sie sah Khay an, der sich daraufhin die Optionen durch den Kopf gehen ließ und schließlich einmal kurz nickte.
»Damit sind wir einverstanden«, erklärte sie.
Der Gedanke an das Doppelleben, das vor mir lag, machte mir Angst. Zugleich erregte er mich aber auch, das musste ich gestehen. Ich hatte Tanefert zwar das Versprechen gegeben, die Familie nicht im Stich zu lassen, gelangte aber zu dem Schluss, dass ich diesen Schwur nicht brechen würde, denn ich musste die Stadt nicht verlassen, um in diesem Fall hier zu ermitteln. Und da ich unter Nebamuns Fuchtel stand, gab es im Hauptquartier der Medjai zweifelsohne zu wenig Arbeit für mich. Ich fragte mich, warum ich mir hier selbst gut zuredete.
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