Ein Donner riss ihn aus seinen Gedanken und rief Mondino in Erinnerung, warum er den Schreibtisch verlassen hatte. Er holte den Stapel mit den Notizen zu seinem Buch von einem Regal. Es waren Hunderte von Blättern, mit Fußnoten und Bildern, in denen Punkt für Punkt, Organ um Organ der Aufbau des menschlichen Körpers beschrieben wurde. Mondino stellte sich gern vor, wie aus seiner Abhandlung ein großes, ledergebundenes Buch werden würde, auf dem in goldenen Lettern dann ein schlichter Titel prangen sollte: Anothomia . Ein Buch, das die Ärzte der kommenden Jahre mit demselben Respekt studieren würden, wie ihn die Juristen dem Werk des großen Irnerius von Bologna entgegenbrachten. Und das wie dessen Abhandlung mit dem Fortschritt menschlichen Wissens vervollständigt und verbessert werden würde, dabei jedoch immer die Grundlage bleiben würde, an der niemand vorbeikam.
Im Augenblick bestand seine Abhandlung nur aus einer Sammlung von Notizen, die Mondino immer wieder überarbeitete und die er noch nicht in Reinschrift abzufassen wagte. Weitere Studien, weitere Forschungen waren nötig, ehe er der Welt seine Ergebnisse wie eine unfehlbare Landkarte präsentieren konnte, der man blind folgen konnte.
Für sein Werk konnte die Enthüllung des Geheimnisses, wie man Blut in Eisen verwandelte, ein ungeheuer wichtiger Fortschritt sein. Sicher, es war gefährlich, aber es gehörte zu Liuzzos Wesen, nie ein Risiko einzugehen, ihm selbst war diese Eigenschaft fremd. Sein Onkel war ein ausgezeichneter Arzt, aber ihm fehlte völlig der Wunsch sich weiterzuentwickeln. Er beschränkte sich darauf, Regeln anzuwenden, die andere aufgestellt hatten. Vielleicht, dachte Mondino, hatte er es jedoch gerade deshalb so schnell und so weit im Studium gebracht.
Er schätzte die Ergebnisse der Forschung, war aber nicht bereit, sich dafür in irgendeiner Weise zu exponieren. Mondino hatte sich daher entschlossen, ihm die ganze Angelegenheit zu verschweigen. Sein Onkel hätte sich nur erschreckt, ihm Knüppel zwischen die Beine geworfen und ihm das Leben schwer gemacht.
Als hätten seine Gedanken ihn herbeigerufen, erschien Liuzzo plötzlich im Türrahmen.
»Guten Abend, Onkel. Ich wusste nicht, dass Ihr schon eingetroffen seid.«
»Du könntest auch ab und zu mal hinunterkommen, um deinem Vater einen Besuch abzustatten«, sagte Liuzzo vorwurfsvoll. »Er hat mir gesagt, dass er dich heute noch gar nicht zu Gesicht bekommen hat.«
»Ihr seid ungerecht. Ich bin erst vor kurzem bei ihm gewesen. Er schlief, und ich wollte ihn nicht wecken.«
Sein Vater war krank. Für Mondino stand fest, dass er in der linken Lunge ein Karzinom hatte oder ein Sarkom, wie Galen es bezeichnete. Wenn er sich auf die rechte Seite drehte, bekam er kaum noch Luft, weil die einzige gesunde Lunge von seinem Körpergewicht zusammengepresst wurde und die linke, in der der Tumor wucherte, sich nicht mehr ausdehnen konnte. Diese Krankheit war unheilbar, und man konnte nicht mehr tun, als dem alten Mann beizustehen und ihm die letzten Monate seines Lebens so angenehm wie möglich zu gestalten. Mondino und seine drei Söhne, Gabardino, Ludovico und Leone, kamen abwechselnd zu ihm ins Zimmer, sobald sie ein wenig freie Zeit hatte.
Liuzzo betrat das Arbeitszimmer und näherte sich den Unterlagen auf dem Schreibtisch. »Diese Aufzeichnungen nehmen deine gesamte Zeit in Anspruch«, sagte er. »Wenn du keine Vorlesungen hältst, schreibst du. Und in der Nacht schläfst du nicht wie jeder andere gute Christenmensch, sondern gehst fort, um Leichen zu sezieren. Nicht nur dein Vater bekommt dich kaum zu Gesicht. Auch deine Söhne wissen inzwischen, dass sie nicht auf dich zählen können. Wenn Leone einen Rat braucht, wendet er sich gleich an Pietro und Lorenza.«
Pietro und Lorenza hieß das Ehepaar, das Mondino nach dem Tod seiner Frau in seine Dienste genommen hatte. Sie waren jung und voller Energie, und ihre kleine Tochter brachte mit ihrem fröhlichen Kreischen Leben ins Haus.
»Hast du nichts dazu zu sagen?«, bohrte Liuzzo nach.
»Was soll ich denn sagen?«, fuhr Mondino zornig auf. »Dass Ihr Recht habt? Nun gut, Ihr habt Recht. Seid Ihr jetzt zufrieden?«
Liuzzo erstarrte. »Ich habe nur vorbeigeschaut, um dich daran zu erinnern, dass du am Sonntag beim Bankett nicht fehlen darfst«, sagte er förmlich. »Ich erwarte, dass du mich zu Hause abholst, wie es deine Pflicht als jüngerer Partner unserer Medizinschule ist.«
Nach diesen Worten drehte er sich um und verließ grußlos den Raum. Mondino lauschte den Schritten seines Onkels auf der Holztreppe, die nach unten ins Erdgeschoss führte. Dann kehrte er zum Regal zurück und legte den Packen Aufzeichnungen fort. Jetzt stand fest, dass er an diesem Nachmittag nicht mehr arbeiten würde.
Als Gerardo am Campo del Mercato ankam, hatte es aufgehört zu regnen. Der Arbeitstag war vorüber, und auf dem Platz waren nur noch Menschen, die ihren Feierabend genossen, sich unterhielten oder miteinander würfelten. Die Folgen der Missernte des Vorjahres, durch die die Getreidepreise gestiegen waren, waren noch nicht vorüber, aber die Leute wollten nur noch eines: die ganze Misere vergessen. Drei kleine Jungen warfen im Spiel Kieselsteine gegen das Mäuerchen der Schwemme. Auf der gegenüberliegenden Seite wusch ein Bauer seinen Esel, indem er ihm aus einem mit Zinn bereiften Holzeimer Wasser über die Kruppe schüttete. Als Gerardo die Kinder fragte, ob sie ihm sagen könnten, wo eine gewisse Filomena wohnte, antworteten sie im Chor: »Die behaarte Frau?« und rannten davon wie die Hasen. Gerardo wollte keine Aufmerksamkeit erregten, indem er Erwachsene nach ihr fragte, daher beschloss er, einen Soldo zu opfern. Er zeigt die Münze den Jungen, die etwas weiter weg stehen geblieben waren. Einer von ihnen schien der Anführer zu sein, ein dürrer, blonder Knabe, dessen aufgeschürfte Knie unter der kurzen, ärmellosen Tunika hervorschauten. Der kam nun ein wenig auf ihn zu und blieb in sicherer Entfernung stehen. Mit einer Handbewegung machte er Gerardo begreiflich, dass er zuerst die Münze wollte, bevor er etwas sagte. Der Templer warf sie ihm vor die Füße. Rasch bückte sich der Junge, hob sie auf und zeigte dann auf eine Gasse ganz in der Nähe der großen Schwemme. »Das vorletzte Haus rechts!«, schrie er. Dann lief er fort, gefolgt von seinen Kameraden, denen er voller Stolz den eben so leicht verdienten Soldo zeigte.
Gerardo folgte den Angaben des Jungen. Er wunderte sich ein wenig über dessen seltsames Verhalten, maß dem aber nicht allzu viel Bedeutung bei. Sollte die Frau, die er suchte, eine Dirne sein, war es nur natürlich, dass die Eltern den Kindern eingeschärft hatten, dass sie sich von ihrem Haus und ihren Freiern fernhalten sollten.
Die Gasse stank wie alle engen Straßen der Stadt, da trotz der Kontrolle durch die Ministrali di contrada , den von den Bewohnern des Viertels gewählten Vertretern, überall Unrat und Kot herumlagen. Eigentlich waren die Beamten verpflichtet, jeden anzuzeigen, der erwischt wurde, wie er seinen Abfall auf die Straße warf. Dieses Prinzip funktionierte auf den Hauptstraßen, aber in den Gassen herrschten andere Sitten, denen man nur schwer beikommen konnte.
Gerardo ging bis zum vorletzten Haus und musste dabei über einen verendeten Hund steigen, den jemand glücklicherweise mit etwas Löschkalk bedeckt hatte. Dann klopfte er an der Tür.
Ihm öffnete die hässlichste Frau, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Sie war alt - weit über fünfzig -, und ihre Haare unter der dreckigen Haube waren vollkommen grau. Die Alte war nachlässig gekleidet und ihr Blick leer. Man sah sofort, warum die Jungen sie mit diesem Spottnamen belegt hatten. Ihre Handrücken waren mit borstigen, schwarzen Haaren bedeckt wie bei einem Mann. Ihr Gesicht war glatt, aber auf den Wangen konnte man die Spuren eines Rasiermessers erkennen, und ihre Augenbrauen waren so pelzig wie Seidenraupen. Gerardo überlegte schaudernd, wie wohl ihre Beine aussehen mochten, aber zum Glück wurden diese von ihrem knöchellangen Gewand verdeckt.
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