Auf Zypern schlief er auf einer Matratze aus feiner Wolle. Die unbequemen Schlafplätze während seiner Reise hatten ihn an seine Jugend erinnert. Auch jetzt, während er es genoss, endlich seine Glieder entspannt ausstrecken zu können, in diesem angenehmen Augenblick, der dem Schlaf vorausgeht, dachte Wilhelm von Trier an die ferne Zeit zurück, in der die Suche ihren Anfang genommen hatte.
Er war blutjung gewesen, als er mehr aus Abenteuerlust denn aus religiöser Berufung in den Orden der Tempelritter eintrat und sofort ins Heilige Land aufgebrochen war. Man hatte ihn der Komturei von Tyros zugeteilt. Dort hatte ihm ein Gefährte von dem Geheimnis erzählt, nach dem zu suchen sein Lebensinhalt werden sollte.
Al iksir , so hatte er es genannt. Ein Geheimnis, das arabische Alchimisten schon vor Christi Geburt kannten und das vermutlich aus dem fernen Indien stammte. Die abendländischen Wissenschafter nannten es »Lebenselixier«, ein trockenes Pulver, welches das Leben auf unbestimmte Zeit verlängern und jede Wunde, jedes körperliche Gebrechen heilen konnte.
Der Mönch, der ihm davon erzählt hatte, behauptete, in Alexandretta, einer Stadt, die seit langem in der Hand der Sarazenen war, lebe ein Alchimist, der dieses Geheimnis kannte. Sein Mitbruder versuchte schon längere Zeit, unter falschem Namen dorthin zu gelangen, doch es war ihm nicht gelungen. Nun hatte er erfahren, dass der Mann, den er suchte, sich zu den Mauren nach Spanien geflüchtet hatte.
»Und aus diesem Grunde spreche ich davon zu Euch, Bruder«, hatte er Wilhelm erklärt. »Ich brauche Eure Hilfe. Dafür biete ich Euch an, an den Nachforschungen teilzunehmen. Ich hatte Gelegenheit, Euch in diesen Monaten zu beobachten, und ich weiß, dass Ihr der Richtige seid: mutig, klug und entschlossen.«
Wilhelm hatte die Schmeicheleien zurückgewiesen und ihn direkt gefragt, was genau er von ihm wolle. Das war schnell gesagt. Wilhelm hatte den Rang eines Sergeanten und arbeitete auch in der Schreibstube. Über seinen Tisch gingen alle Versetzungsbefehle der Komturei. Der Mitbruder brauchte seine Hilfe, um sich nach Spanien schicken zu lassen, wo er seine Nachforschungen fortsetzen wollte.
So waren beide wenige Monate vor dem Fall von Akkon, der den endgültigen Verlust des Heiligen Landes für die christlichen Mächte besiegelte, in den Dienst der Komturei von Tortosa übergewechselt, wo ein weiterer Tempelritter ihrer Gruppe beigetreten war. Die drei hatten einen Pakt geschlossen, um das Elixier in ihren Besitz zu bringen. Dann war Wilhelms Freund am Fieber gestorben, und sie waren nur noch zu zweit. Inzwischen war der türkische Alchimist, den sie suchten, getötet worden; man hatte seine Leiche vor den Toren Granadas gefunden. Dem Toten fehlte das Herz. Dieser Umstand hatte die Feindseligkeiten zwischen Granada, das in der Hand der Sarazenen war, und Tortosa, der Festung des Königreiches Aragon, noch verschärft. Wilhelm und sein Gefährte hatten schon die Hoffnung aufgegeben, ihre Nachforschungen mit Erfolg beenden zu können, da der Alchimist tot war. Doch unerwartet war ein neuer Verbündeter aufgetaucht, ebenfalls ein Tempelritter, der sie auf eine weitere Spur brachte - und zwar in Tortosa …
Wilhelm von Trier war nicht mehr in der Lage, die Vergangenheit weiter heraufzubeschwören. Seine bewussten Gedanken vermischten sich mit seltsamen Bildern, die in seinem Kopf ohne logische Verbindung entstanden, und einen Moment später schlief der alte Tempelritter bereits.
Mondino trat auf Zehenspitzen in die Tür des Zimmers, das sein Vater im Erdgeschoss des Hauses bewohnte, und beobachtete ihn verstohlen. Rainerio lag mit dem Kopf zum Fenster und betrachtete die kleinen leuchtend grünen Früchte, die sich nach der Blüte an dem Apfelbaum gebildet hatten. Der alte Mann war abgemagert und blass, seine Haut glänzte merkwürdig, und sein Blick wurde jeden Tag abwesender. Mondino unterdrückte seinen Schmerz, betrat den Raum und setzte sich auf einen Schemel neben dem Bett.
»Guten Abend, Vater.«
Er fragte ihn nie, wie es ihm ging. Alle, die das Zimmer betraten, taten dies unveränderlich. Er nicht. Was für einen Sinn sollte es auch haben, einen Sterbenden nach seinem Befinden zu fragen, das zwang ihn doch nur zu lügen und mit krampfhaftem Lächeln und abgedroschenen Phrasen zu antworten. Denn wenn er die Wahrheit gesagt hätte, hätten sich die Leute unwohl gefühlt, ihn mit freundlichen Ermahnungen überhäuft und einen heuchlerischen Optimismus zur Schau getragen. Selbst Mondino war nicht ehrlich zu ihm, denn jedes Mal, wenn er den Raum betrat, legte sich eine Maske über sein Gesicht, um seine wahren Gefühle vor seinem Vater zu verbergen. Es war keine Heuchelei, sondern Mitgefühl. Für sie beide.
Rainerio drehte sich um und lächelte. »Mondino. Inzwischen lässt du dich hier nur noch selten sehen.«
Der Arzt nickte, wieder lenkte ihn der Gedanke ab, der ihn seit dem vergangenen Abend nicht losließ. Gerardo war nicht zu ihrer Verabredung erschienen. Und sosehr er sich auch bemühte, alle harmlosen Möglichkeiten für seine Abwesenheit in Betracht zu ziehen, drehte sich sein Kopf nur um eine einzige Befürchtung: Wenn er verhaftet worden war, würden die Häscher auch bald an seine Tür klopfen.
»Genau darüber wollte ich mit Euch reden, Vater«, sagte er und verjagte diese düsteren Gedanken. »Es kann sein, dass ich in nächster Zeit noch häufiger von zu Hause abwesend sein werde.« Er wandte den Blick ab und suchte nach den passenden Worten. »Ich möchte Euch sagen, dass dies keineswegs Gleichgültigkeit Euch gegenüber ist.«
Trotz seiner Selbstbeherrschung hatte seine Stimme einen Moment geschwankt. Er hoffte nur, dass sein Vater es nicht bemerkt hatte.
»Ist dir wieder ein Rätsel untergekommen?«
»Woher wisst Ihr das?«, platzte Mondino aufs Höchste überrascht heraus.
Rainerio lächelte nicht, aber in seinen Augen blitzte ein Fünkchen Heiterkeit auf. »Muss ich dich an die Geschichte mit den Äpfeln erinnern? Sie ging mir gerade durch den Kopf.«
Mondino erinnerte sich ganz genau an diese Episode, auch weil sie ihm eine kräftige Tracht Riemenhiebe eingebracht hatte. Als kleiner Junge hatte er einmal alle Äpfel vom Baum gestohlen und sie auf dem Dachboden in einer mit Ölpapier ausgelegten Holzkiste versteckt, die er dann mit einem Deckel zugenagelt hatte. Er hatte gehört, was sein Onkel Liuzzo über das spontane Entstehen von Würmern gesagt hatte und beschlossen, dies zu überprüfen. Sollte er nach zwei oder drei Wochen bei Öffnen der Truhe Würmer in den Äpfeln finden, würde er daran glauben, dass sie von selbst entstanden.
»Das müsst Ihr nicht«, erwiderte er lächelnd. »Ich frage mich noch heute, wie es Euch gelungen ist, mich zu erwischen.«
»Weil ich dich kenne«, antwortete Rainerio. »Dich fasziniert alles, was du dir nicht erklären kannst, und du findest keine Ruhe, bis du eine befriedigende Antwort gefunden hast. Nicht einmal der göttliche Aristoteles entgeht deinen Nachforschungen. Und nun hast du anscheinend wieder etwas gefunden, das deine Fantasie beschäftigt. Deshalb sieht man dich kaum noch zu Hause.«
Mondino und sein Vater hatten nie viel miteinander geredet. Beide hatten den für Choleriker typischen schwierigen Charakter, der von den Säften der gelben Galle beherrscht wird. Zwischen ihnen hatte es selten Umarmungen und oft Streit gegeben. Mondino war davon überzeugt, dass sein Vater dem, was er tat, keine Beachtung schenkte. Und nun zeigte ihm Rainerio, dass er ihn viel genauer kannte, als er erwartet hätte.
Es stimmte, er liebte es, Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Aus diesem Grund war er auch Arzt geworden. Noch mehr als der Gedanke, die Leiden seiner Mitmenschen zu lindern, hatte ihn der Drang, die Funktionsweise des menschlichen Körpers zu erschließen, dazu getrieben, diesen Beruf zu ergreifen. Und aus dem gleichen Grund hatte er sich für die Anatomie begeistert. Aber es war besser, wenn sein Vater nicht einmal ahnte, welcher Art das Geheimnis war, das ihn nun beschäftigte.
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