Er bat sie, ihm alles zu wiederholen, was Angelo an diesem Abend gesagt hatte, aber sie zuckte wieder nur mit den Schultern. »Er hat nichts gesagt. Die Leute kommen nicht zum Plaudern zu mir.«
Gerardo drückte wieder kräftig ihre Kehle zu. Filomena riss die Augen auf. Sie machte ein Zeichen, dass sie reden wollte, und sobald sie wieder atmen konnte, hustete sie heftig.
Als der Hustenanfall vorüber war, stützte sie sich mit einer Hand auf den Tisch, als ob sie Halt bräuchte, und krächzte: »An etwas erinnere ich mich.«
»Woran?«
»An diesem Abend taten mir die Beine weh, wie jedes Mal, wenn in der Stadt Nebel aufkommt, denn als er gehen wollte, bin ich nicht aufgestanden, um ihm die Tür zu öffnen. Ich habe ihm gesagt, dass das die Gebrechen des Alters seien und habe ihm gewünscht, dass er seine Jugend genießen solle, solange es ging.«
»Und dann?«, fuhr Gerardo sie ungeduldig an.
»Er hat mich so seltsam angesehen und hat gesagt …«
»Was hat er gesagt?« Gerardo konnte sich nicht mehr zurückhalten.
»Er hat gesagt: ›Ich werde nicht alt. Und doch werde ich immer noch da sein, selbst wenn dein Haus schon unter der Last der Jahrhunderte eingestürzt ist.‹ Ich erinnere mich nicht nur wegen dieser Worte daran, sondern wegen seines Blicks. Er sah beinahe aus, als wäre er verrückt.«
Gerardo ließ ihre Kehle los. Er war überrascht. Wusste Angelo vielleicht, dass er in ein paar Tagen sterben würde und hatte deswegen gesagt, dass er nicht alt werden würde? Aber was für einen Sinn ergab dann der zweite Satz?
Filomena nutzte den kurzen Moment, in dem er abgelenkt war, um sich loszureißen. Sie warf den Weinkrug um, als sie zu dem Vorsprung aus Ziegelsteinen neben dem Kamin eilte, um das dort liegende Messer zu holen. Ehe Gerardo sie erreicht hatte, war sie bereits auf die andere Seite des Tisches gelaufen und schrie wie eine Besessene. »Zu Hilfe! Geremia! Bernardo! Kommt schnell!«
Gerardo begriff, dass die Alte noch Komplizen haben musste, die den Auftrag hatten, ihr bei eventuellen Problemen mit den Freiern zu helfen. Er konnte nicht rufen, dass jemand aus der Nachbarschaft den Häschern Bescheid sagen sollte, denn das war das Letzte, was er sich wünschte. Ihm blieb nur eine Möglichkeit: Er musste fliehen. Mit einem Satz war er an der Tür, riss sie auf und lief dann hinaus auf das Gässchen, genau im gleichen Moment, als aus dem Haus gegenüber zwei plumpe Gestalten erschienen. Er blieb nicht stehen, um zu sehen, ob sie ihn verfolgten oder zu der Alten liefen. In seiner Panik rannte Gerardo einfach los, so schnell er konnte. Als er endlich wagte, sich umzudrehen, stellte er fest, dass ihm niemand auf den Fersen war. Erst jetzt bemerkte er ein unangenehmes feuchtes Gefühl an seinen Beinen. Als er an sich herunterblickte, sah er, dass er von Wein durchnässt war.
Es war beinahe Abend, aber in diesem Zustand konnte er sich nicht mit Mondino treffen, daher beschloss er, erst in seine Herberge zu gehen, um sich umzuziehen. Während er lief, wurde er immer wieder von nervösem Zittern durchgeschüttelt, vollkommen erschöpft von der Müdigkeit und den schrecklichen Dingen, die er über seinen Mitbruder und Freund herausgefunden hatte. Er konnte sich erst wieder beruhigen, als er endlich seine Unterkunft erreicht hatte, und dort schwor er sich, dass er den armen Masino befreien würde, selbst wenn es ihn das Leben kosten sollte.
Während er sich auf dem belebten Platz vor der Basilika Santo Stefano umsah, dachte Wilhelm von Trier, dass dieser Anblick die lange Reise, die er hinter sich gebracht hatte, nicht lohnte. Natürlich hatte der Gedanke, dass Bologna ein getreues Abbild der heiligen Stätten von Jerusalem schaffen wollte, etwas Interessantes, und der Name Sancta Hierusalem Bononiensis war in der ganzen Christenheit bekannt. Dennoch fand er, der das echte Jerusalem mit eigenen Augen gesehen hatte, es übertrieben und geradezu gotteslästerlich, dass man hier heilige Namen wie »Tal Josaphat«, »Golgatha« und »Ölberg« an Plätze und Hügel der Stadt vergab. Einer Stadt, die von Kaufleuten, Gasthäusern und Hurenhäusern geschändet wurde, selbst wenn ihre Anwesenheit auf gewisse Weise von den dort erbauten Kirchen geadelt wurde.
Die »Grabeskirche« wollte er aber trotz allem besuchen. Doch zunächst musste er eine Unterkunft finden, sich ausruhen und stärken in der Hoffnung, am Nachmittag würde es nicht mehr so feucht sein. Das Alter forderte seinen Tribut: Wilhelm von Trier war ein betagter Mann und hätte nie die Insel Zypern verlassen, wo er eine sichere Zuflucht vor der Welle von Beschuldigungen und Prozessen gefunden hatte, die über seinen Orden hereingebrochen waren. Es gab jedoch einen triftigen Grund, der ihn trotz aller Gebrechen und der Notwendigkeit, unerkannt zu bleiben, zu dieser Reise bewogen hatte. Instinktiv fuhr seine Hand unter das Gewand, um nach der in die Beinlinge eingenähten Tasche zu tasten, wo er die Landkarte verwahrte. Beinahe hätte er sie auf Zypern zurückgelassen, und erst im letzten Moment hatte er sich doch dazu entschlossen, sie mitzunehmen. Diese Karte, die sie dem Mann unter der Folter abgepresst hatten, hatte sich als vollkommen nutzlos erwiesen. Dennoch war sie zu genau gezeichnet, als dass es sich um eine Fälschung handeln konnte. Während all der Jahre hatte Wilhelm sich gefragt, ob sie nicht ein Geheimnis verbarg, das zu entschlüsseln sie nur nicht in der Lage gewesen waren. Vielleicht würde er nun endlich eine Antwort auf diese Frage bekommen.
Er bog gemächlich in eine Gasse links des Platzes ein, weil er dachte, dass dort der ideale Ort für ein Gasthaus wäre, in dem man ihm nicht zu viele Fragen stellen würde. Auf seiner Reise hatte er sich als Pilger nach Santiago de Compostela ausgegeben. Sein unscheinbares Äußeres und die ärmliche Kleidung hatten ihn zwar vor Dieben und Räubern beschützt, aber sie hatten ihn auch gezwungen, stets in elenden Absteigen zu übernachten. So konnte er es kaum erwarten, dass endlich alles vorüber war und er nach Zypern zurückkehren konnte.
Doch zunächst musste er herausfinden, was der mysteriöse »Freund«, der ihm den Brief geschrieben hatte, für das versprochene Geheimnis haben wollte. Und dann musste er eine Möglichkeit finden, es ihm zu entreißen und ihn zum Schweigen zu bringen. Das musste jedoch alles bis zum Abend warten. Wenn in dem Brief die Wahrheit gestanden hatte, würde er nach der Vesper alles erfahren.
Er fand ein Gasthaus, das seinen Vorstellungen entsprach, trat ein und wunderte sich, dass der Wirt einigermaßen Latein konnte. Während seiner gesamten Reise durch das Gebiet von Italien hatte Wilhelm Schwierigkeiten gehabt, sich zu verständigen: In der Verkleidung eines Pilgers hielt er sich vor allem an bescheidenen Orten auf, und die armen Leute dort sprachen nur Volgare .
Der Gastwirt erklärte ihm, in Bologna sei man an Gäste aus aller Herren Länder gewöhnt, Männer der Kirche, Studenten und Pilger, und da brauchte man fürs Geschäft schon ein wenig Latein. »Als ich ein kleiner Junge war, hat mein Vater mich zu einem Benediktinermönch aus der Basilika hier zum Lernen geschickt«, erzählte er. »Und jetzt weiß ich, dass er recht daran getan hat.«
Wilhelm fragte nach einem Zimmer nur für sich allein und erklärte, er würde an Schlaflosigkeit leiden und es deshalb nicht ertragen, in Gemeinschaftsräumen zu übernachten. Der Wirt hatte noch ein kleines Zimmer mit einem Bett für zwei Personen, und der Tempelritter willigte ein, für zwei zu zahlen, obwohl er den Raum allein benutzte. Er stieg über eine enge Holztreppe in den ersten Stock hinauf, betrat das Zimmer, ließ die beiden Quersäcke - sein einziges Gepäck - auf den Boden fallen, zog die Schuhe aus und legte sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf den mit Stroh gefüllten Stoffsack.
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