»Vater, ich möchte beichten.«
Der Priester nickte, stand auf und bedeutete ihm, näher zu kommen. Gerardo kniete vor ihm nieder und wartete darauf, dass der Priester die übliche Formel sprach. Dann beichtete er alle Sünden, an die er sich erinnerte. Im Geiste bat er Gott dabei um Verzeihung, dass er nicht die Dinge enthüllen konnte, die ihn wirklich bedrückten. Eigentlich sollten die Lippen eines Priesters versiegelt sein, doch er wusste nur zu gut, dass seine Vorgesetzten einem Priester gewöhnlich die Absolution erteilten, wenn er das Beichtgeheimnis gebrochen hatte, falls diese Verfehlung im Namen des übergeordneten Wohls der Kirche geschehen war. Und zurzeit schien die Kirche die Vernichtung des Templerordens als ihr übergeordnetes Wohl anzusehen. Gerardo durfte also kein Risiko eingehen.
Während er seinen Kopf nach verborgenen Sünden durchforstete, immer noch leicht betäubt vom Wein und der durchwachten Nacht, entschlüpfte ihm plötzlich, er habe darüber nachgedacht, wie gern er eine Familie gründen würde mit einer Frau, Kindern und einer Arbeit nachgehen, die der Ehre des Herrn gewidmet war.
Der Priester unterbrach ihn neugierig: »Und warum denkst du, dass dies eine Sünde sein könnte, mein Sohn?«
Gerardo merkte sofort, dass er einen Fehler begangen hatte. Dieser Gedanke war eine Sünde, weil sie im Widerspruch zu seinem heiligen Gelübde stand, aber das konnte er ihm nicht sagen.
»Die Frau, die diese Wünsche in mir ausgelöst hat, ist verheiratet, Vater«, log er. »Ich habe eine Todsünde begangen.«
Der Priester nickte ernst, als ob er eine solche Antwort erwartet hätte. Dann fragte er Gerardo, ob er noch anderes zu beichten hätte, und als dieser verneinte, erlegte er ihm eine strenge Buße auf und entfernte sich. Gerardo stand auf, verließ die Kirche, und als er wieder im Freien stand, fühlte er auf einmal die ganze Müdigkeit der durchwachten Nacht schwer auf sich lasten, als ob die Beichte ihn völlig erschöpft hätte.
Der Regen hatte zugenommen. Gerardo zog sich wieder die Kapuze über den Kopf, und während er mit unsicheren Schritten den Platz überquerte, traf er zwei Entscheidungen: Bevor er Filomena, die Frau von dem Kärtchen aufsuchte, würde er zu seiner neuen Unterkunft gehen und ein wenig schlafen. Außerdem würde er in Zukunft dafür sorgen, dass er sich niemals mit der Tochter des Bankiers allein in einem Raum befand.
Durch das geöffnete Fenster im Haus der Familie Liuzzi, das an einer Seitenstraße der Via San Vitale lag, drang das graue Licht des Nachmittags hinein, und vom Hof stieg der Geruch von feuchter Erde auf. Der Sommer war nicht mehr fern, doch der Regen hüllte noch alles in die grauen Farben des Winters. Zum dritten Mal nahm Mondino den Gänsekiel in die Hand, tunkte ihn ins Tintenfass und musste ihn zum dritten Mal unverrichteter Dinge wieder sinken lassen. Vor ihm lag ein weißes Blatt, eine neue Kerze und ein ganzes Ries Hadernpapier, das nur darauf wartete, mit weiteren anatomischen Notizen beschrieben zu werden. Aber es war nichts zu machen; er konnte sich einfach nicht konzentrieren.
An diesem Tag hatte er seine Medizinvorlesung abgesagt und den ganzen Morgen damit verbracht, mit drei Alchimisten zu sprechen, die im Viertel Porta Procola wohnten, in der Nähe der »Circla«, wie der Holzzaun im Volksmund genannt wurde. Er bildete vorübergehend noch den dritten Stadtbefestigungsring um Bologna, solange die eigentlichen Maurerarbeiten noch nicht begonnen hatten.
Trotzdem hatte Mondino von keinem der drei etwas Brauchbares erfahren, vor allem auch deshalb, weil er nicht gewagt hatte, in seinen Fragen allzu sehr ins Detail zu gehen. Er glaubte zwar, dass er kein großes Risiko einging, weil die Alchimisten sich meist nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten und sich von Richtern und Anklägern fernhielten, doch man konnte nie vorsichtig genug sein. Man hatte ihm den Namen eines weiteren Alchimisten genannt, der sich erst vor kurzem nach jahrelangen Reisen in Bologna niedergelassen hatte. Er würde ihn so schnell wie möglich aufsuchen und befragen.
Allerdings hegte der Arzt keine große Hoffnungen, denn derjenige, der ihm seinen Namen genannt hatte, hatte auch hinzugefügt, dass es sich bei dem Alchimisten um einen Mann handelte, der dem aqua vitae nicht nur zum Zwecke der Alchimie oder Medizin zugetan war.
Mondino nahm all seine Willenskraft zusammen, um eine Zeichnung des Muskels zwischen Arm und Schulter zu beenden, dessen Form an den umgedrehten griechischen Buchstaben Delta erinnerte und den einige Mediziner daher auch Deltoideus oder Deltamuskel nannten. Am Rand der Zeichnung notierte er Ratschläge, wie man ihn vom Knochen lösen konnte, dann fuhr er mit den Brustmuskeln fort. Doch seine Gedanken wanderten automatisch zu dem, was im menschlichen Körper unter diesen Muskeln und dem schützenden Brustkorb lag: das Herz. Von dort war es nur noch ein kleiner Schritt zu dem Geheimnis, auf das er letzte Nacht gestoßen war … Und schon wieder verlor Mondino sich in einem faszinierenden und gefährlichen Tagtraum.
Verzweifelt stand er auf, um den Stapel mit den bereits beschriebenen Blättern zu holen. Als er am Fenster vorbeikam, blieb er stehen, um hinaus auf den Regen zu starren. Nicht einmal das monotone, beinahe einschläfernde Rauschen des Wassers auf den Blättern des Apfelbaums im Garten und auf den Dächern der Nachbarhäuser vermochten ihm beruhigendere Gedanken zu verschaffen. Er schaute zu den Türmen der Caccianemici Piccoli hinüber und zum Campanile der Kirche der heiligen Vitale und Agricola in Arena, die die Häuser der Umgebung überragten; dabei sah er Gerardo bei seiner Flucht über die Dächer vor sich, wie er eine Leiche hinter sich herschleppte, bis es ihm seiner Erzählung nach gelungen war, über eine Reihe sanft absteigender Terrassen in einem eingezäunten Garten den Boden zu erreichen. Mondino kannte den Besitzer dieses Hauses. Er war ein Ghibelline wie er selbst, der - welche Ironie des Schicksals - sich einmal vor den Vergeltungsmaßnahmen einer mit den Geremei eng verbundenen Welfenfamilie retten konnte, indem er Gerardos Weg in genau der umgekehrten Richtung genommen hatte: Er hatte sich von einer Terrasse zur nächsten hochgehangelt und war dann über die Dächer gelaufen, bis er auf Hörweite an die Häuser der Lambertazzi hinter der Piazza Maggiore herangekommen war. Dort hatte er dann angefangen zu schreien, bis Hilfe kam. Die Vergeltungsmaßnahme endete schließlich mit drei Toten und mehreren Verletzten auf beiden Seiten, denen Mondino und sein Onkel Liuzzo unterschiedslos Hilfe leisteten.
Als er an diese Begebenheit zurückdachte, musste Mondino den Kopf schütteln. Bologna würde sich nie mehr zum Ruhm des vorangegangenen Jahrhunderts aufschwingen, wenn sich seine Einwohner weiterhin in Streitigkeiten zwischen Welfen und Ghibellinen verzettelten, angeführt von den Familien der Geremei und der Lambertazzi. Aber gleichzeitig wollte er das Feld nicht kampflos der Kirche überlassen, die der Stadt ihre Vorherrschaft aufzwingen wollte. Am besten wäre es, seine Freiheit zu behalten, ohne dass man dafür dem Papst oder dem Kaiser Rechenschaft ablegen musste. Aber weil dies nicht möglich war, sollte man sich lieber mit Heinrich VII. verbünden, der vor wenigen Monaten in Mailand zum König von Italien gekrönt worden war. Vor ein paar Tagen war Heinrich nach Lodi und Cremona aufgebrochen. Sollte es ihm gelingen, die beiden Städte zu unterwerfen, würde seine Herrschaft dadurch gefestigt. Mondino überlegte, was er wohl tun würde, wenn der Herrscher vor den Toren von Bologna stehen würde wie einst vor so langer Zeit Barbarossa. Seine Treue zu den Ghibellinen legte ihm nahe, einen ehrenvollen Frieden auszuhandeln, aber wenn die Stadt beschließen sollte, zu den Waffen zu greifen und zu kämpfen, würde auch er dies tun. In einer so unsicheren Welt zählte die Freiheit der Stadt mehr als alles andere.
Читать дальше