»Bernardo! Komm her, um Gottes willen!«
Als er diesen Namen hörte, erinnerte sich Gerardo, was Filomena am vergangenen Abend gerufen hatte. Das waren also ihre Spießgesellen, die sie zurückgelassen hatte, um die Wohnung zu bewachen, vielleicht in Erwartung seiner Rückkehr. Er hörte ein Geräusch hinter sich, ungefähr vier oder fünf Schritte entfernt, sah sich aber gar nicht erst um, sondern griff gleich den Mann vor sich an und überraschte ihn damit. Mit einer Hand packte er den Arm, der den Dolch hielt, drehte das Handgelenk seines Angreifers um, bis dieser die Waffe fallen ließ, und mit der anderen versetzte er ihm einen Schlag gegen die Kehle, dass der Mann keuchend auf dem Boden zusammenbrach.
Gerardo bückte sich, um die Waffe aufzuheben, und rollte sofort zur Seite, um dem Angriff des zweiten Mannes auszuweichen, der sich auf ihn gestürzt, doch ins Leere gegriffen hatte. Gerardo versetzte ihm einen Fußtritt gegen den Kopf und schleuderte ihn auf seinen Kumpan. Noch während seine Angreifer sich mühsam aufrappelten, drehte er sich um und rannte so schnell er konnte auf den Platz zu. Er kam in der Nähe der Schwemme aus der Gasse heraus, wo die gleichen Jungen wie am Vorabend mit einem Ball aus Lumpen spielten. Bevor sie ihn wiedererkennen konnten, verbarg Gerardo den Dolch unter seinem Arm und wandte sich nach links, wo er etwa zwanzig Schritte normal weiterlief, bis er den nächsten Bogengang erreicht hatte. Dort versteckte er sich hinter einer Säule und wartete auf die beiden Mörder, die auch gleich darauf vorn an der Gasse auftauchten. Sie sahen sich kurz um, um festzustellen, wohin er verschwunden war, dann entschieden sie sich, nach rechts zu gehen und entfernten sich eilig.
Gerardo beruhigte sich endlich, wenn auch nur für kurze Zeit: Schlagartig kam all die Angst, die er im Augenblick des Geschehens unterdrückt hatte, in ihm hoch, so dass seine Hände und Beine zitterten. Zum ersten Mal außerhalb der Stunden mit seinem Waffenlehrer hatte er einem echten Feind gegenübergestanden. Sein Leben war wirklich in Gefahr gewesen, und dieses Wissen ließ ihn nun nicht mehr los. Nur ein Umstand milderte seine Angst: dass seine militärische Ausbildung ihn gerettet hatte. All die Stunden, in denen er gelernt hatte zu kämpfen, ohne sich von Gefühlen und Gedanken hemmen zu lassen, hatten sich als nützlich erwiesen. Er ging im Kopf noch einmal den kurzen Kampf auf der Gasse durch und musste dann grinsen. Diese beiden Galgenstricke hätte sein Waffenlehrer ganz sicher nicht als »Feinde des Glaubens« bezeichnet, aber wenn es die eigene Haut zu retten galt, verloren diese theoretischen Definitionen ihre Bedeutung.
Gerardo sah sich den Dolch genauer an, den er seinem Angreifer entrissen hatte. Ein Holzgriff und eine billige, aber widerstandsfähige und scharf geschliffene Eisenklinge. Gerardo verbarg die Waffe unter seinem Gewand und steckte sie in den Stoffgürtel, der seine Beinlinge hielt. Dann machte er sich auf den Weg zu seinem gemieteten Zimmer.
Er hatte den kleinen Jungen nicht retten können, und der Schmerz darüber lastete wie ein Klumpen auf seiner Brust. Doch zumindest besaß er jetzt eine Waffe.
Gegen eine Hauswand gelehnt, von der aus er die gesamte Kirche San Giovanni in Monte im Blick hatte, sah sich Wilhelm von Trier ruhelos um. In dieser Nachbildung der heiligen Stätten in Bologna sollte die Kirche den Ölberg darstellen, den Ort, zu dessen Füßen Jesus Christus sich vor seinem Leidensweg in den Garten von Gethsemane zurückgezogen hatte. Der alte Tempelritter fragte sich, warum der anonyme »Freund«, der ihm den Brief geschrieben hatte, gerade diesen Ort als Treffpunkt ausgesucht hatte. Er war zu genau in seiner Beschreibung gewesen, als dass es sich um einen zufällig gewählten Ort handeln konnte. Es hatte schon vor einiger Zeit zum Vespergebet geläutet, und obwohl viele Leute an ihm vorübergekommen waren, hatte sich keiner von ihnen ihm genähert. Wilhelm fragte sich weiter, wie der andere ihn erkennen wollte, doch er war überzeugt, dass seine Sorge unbegründet war. Vermutlich wusste der sogenannte Freund, wie er aussah. Schließlich hatte er schon bewiesen, dass er zu viel über ihn wusste.
Nach Sonnenuntergang wurde es auf dem Platz immer ruhiger, bis sich kaum noch ein Mensch auf der Straße zeigte. Außer ihm war nun nur noch ein Bettler dort, der zwanzig Schritt von ihm entfernt unter einem Bogengang saß und den Passanten seinen verstümmelten rechten Arm und die offene linke Hand entgegenstreckte, um Almosen einzusammeln. Statt der üblichen groben Tunika aus Sackleinen, mit der viele arme Leute sich kleideten, trug der Mann ein schwarzes, schmutziges und schmieriges Gewand, das ursprünglich aus einem guten Stoff geschneidert worden sein musste - vermutlich eine milde Gabe.
Nun läutete die Kirchenglocke zur Komplet. Als hätte der Bettler auf dieses Zeichen gewartet, stand er auf und lief schnell auf ihn zu.
Wilhelm musterte ihn aufmerksam und versuchte herauszufinden, ob es sich um einen echten Bettler handelte oder um diesen »Freund«, der sich so verkleidet hatte. Doch als der Mann näher kam, wich jeder Zweifel: Dieser Gestank und der Schmutz konnten keine Verkleidung sein. Wilhelm bereitete sich schon darauf vor, seine Bitte um ein Almosen zurückzuweisen, doch der Mann wandte sich mit einem Satz in holprigem Latein an ihn, in dem der Templer das Wort »amicus« heraushörte.
Sofort forderte Wilhelm ihn auf, den Satz zu wiederholen, und nach einigen Versuchen gelang es ihm, die Botschaft zu entschlüsseln: Der Freund, mit dem er verabredet war, konnte nicht kommen. Er bat ihn, in sein Gasthaus zurückzukehren und dort auf ihn zu warten.
Der Mann streckte seine unverletzte Hand fordernd aus, und Wilhelm ließ widerwillig eine Münze hineinfallen. Woher wusste der Freund, wo er wohnte? Nachdem er gegessen und sich ausgeruht hatte, war er an diesem Nachmittag nur noch im Büro eines bei den Tempelrittern als vertrauenswürdig geltenden Bankiers gewesen, bei dem er einige große Silbermünzen in Bologneser Lire eingewechselt hatte. Doch dem hatte er natürlich nicht erzählt, dass er in einem billigen Gasthaus Quartier bezogen hatte.
Besorgt und misstrauisch kehrte er in die Herberge zurück und stellte erstaunt fest, dass der Wirt nicht in der Eingangstür stand und das Kommen und Gehen der Gäste überprüfte. Aus dem Garten hörte man wilde Flüche und heftiges Gegacker. Er ging hin, um nachzuschauen, und sah den Mann mit einem streunenden Hund kämpfen, der in das Hühnergehege eingedrungen war und zwei Hennen getötet hatte, bevor er erwischt wurde. Kopfschüttelnd stieg Wilhelm die Treppen hinauf und betrat sein Zimmer.
Kurz darauf spürte er einen entsetzlichen Schmerz im Nacken und ihm schwanden die Sinne.
Als er wieder zu sich kam, stellte Wilhelm von Trier fest, dass er gelähmt war und nicht sprechen konnte. Er spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Während er ohnmächtig gewesen war, musste ihm jemand einen Trank eingeflößt haben. Er begriff, dass er in eine Falle getappt war. Der Jäger war zur Beute geworden.
Er hörte eine leichte Bewegung im Raum und ein metallisches Klirren, als würde jemand Messer schärfen. Wilhelm gab noch eine Zeitlang vor, ohnmächtig zu sein, und versuchte inzwischen anhand der Geräusche herauszufinden, was geschah und ob es für ihn eine Möglichkeit gab, sich zu retten. Doch es gelang ihm nicht. Schließlich öffnete er furchterfüllt die Augen.
Vor dem Bett stand sein Tod und sah ihm lächelnd ins Gesicht. Für ihn begann jetzt die Passion.
Mondino betrat schweren Herzens den Bankettsaal. Bei einem solchen traditionellen Fest, zu dem ein frischgebackener Doktor seine Lehrer einlud, um den Erwerb der licentia docendi zu feiern, legten selbst die ältesten und angesehensten Professoren ihre übliche Ernsthaftigkeit ab und gönnten sich ein Lächeln und Gaumenfreuden. Mondino, der seinen Schülern altersmäßig näher war als den anderen Dozenten, nutzte diese freudigen Anlässe sonst mit Vergnügen, genoss die Musik und die Lieder und ließ sich nie lange bitten, um eine Estampie oder eine Farandole zu tanzen. Dass er kein Gefühl für Rhythmus hatte und häufig aus dem Takt kam, störte ihn dabei wenig.
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