Sie entfernten sich einige Schritte von der Tafel, die gerade abgeräumt wurde, damit die Tische für das Dessert und den Käse vorbereitet werden konnten.
»Bitte verzeiht mir«, sagte Mondino. »Es war dumm und kleinlich von mir, so mit Euch zu sprechen.« Er hob den Blick und sah seinem Onkel in die Augen. »Nun muss ich das Bankett verlassen, und ich bitte Euch mir zu helfen, dass ich dies möglichst mit Anstand tun kann.«
»Das Bankett verlassen?«, fragte Liuzzo nach, den dieser Verstoß gegen die guten Sitten erschreckte. »Aber das kannst du nicht tun! Du würdest unseren Gastgeber beleidigen, der sich monatelang bemüht hat, alles so vorzubereiten, wie es sich gehört.«
Mondino gab ihm ein Zeichen, dass er leiser sprechen sollte. Er schwieg solange, bis zwei Gäste auf ihrem Weg in den Garten an ihnen vorübergegangen waren, dann sagte er: »Ich möchte zum Capitano del Popolo gehen und ihn um die Erlaubnis bitten, mir diese Leiche ansehen zu dürfen. Und ich muss gleich zu ihm, bevor sie den Toten wegbringen. Ich habe nicht die Absicht, dem Papst zu gestatten, sich bei uns als Herr im Haus aufzuspielen.«
Liuzzo blieb stehen und sah ihn an. Sein Schweigen war beredter als viele Worte. Mondino fügte nichts mehr hinzu, und schließlich stieß sein Onkel mit zusammengepressten Zähnen hervor: »Ich werde sagen, man hätte dich an das Bett eines Kranken gerufen, und dich bei unserem Gastgeber entschuldigen. Aber wisse, dass ich das nur für das Wohl unserer Familie tue und keineswegs für dich. Jetzt geh, wenn du das wirklich tun musst. Und wenn wir uns wiedersehen, möchte ich mit dir noch einmal ernsthaft über die Bedingungen unserer Zusammenarbeit sprechen. Ich habe mehr als fünfzehn Jahre darangesetzt, um meine Medizinschule auf den Weg zu bringen. Und ich werde nicht zulassen, dass du dies alles nur für deine Ideen wegwirfst.«
Nach diesen Worten drehte er ihm den Rücken zu und ging zum Tisch zurück. Obwohl er aufgebracht war, lächelte er den Gästen links und rechts zu und tauschte mit ihnen heitere Bemerkungen über die Musik und die Akrobaten aus, die sie in der Pause erfreuten. Mondino beneidete seinen Onkel um diese Gabe, sich in Gesellschaft angemessen benehmen zu können, ein Talent, über das er nur in geringem Maße verfügte. Es war kein Zufall gewesen, dass die acht Weisen der Welfen gerade ihn ausgewählt hatten und nicht seinen Onkel oder seinen Vater, als sie im Jahr 1299 die Liste mit den zweihundert Ghibellinen zusammenstellten, die sie in die Verbannung schicken wollten.
Wegen seiner Ideen hatte man Mondino auf drei Jahre nach Faenza verbannt. Während dieser Zeit hatten sein Vater und sein Onkel für die Familie gesorgt. Um die Strafe zu bezahlen und zurückkehren zu dürfen, hatte Mondino alles aufgewandt, was er besaß, und selbst das hatte noch nicht genügt. In den letzten Jahren war es ihm leidlich gelungen, sich erneut ein bescheidenes kleines Vermögen aufzubauen, weil er ein guter Arzt war; und ausgerechnet jetzt musste Gerardo kommen und ihn erneut in Schwierigkeiten bringen.
Nein, nicht einmal das stimmte. Gerardo war gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten, aber er hätte sie ihm verweigern können. Liuzzo an seiner Stelle hätte die Wachen gerufen und der Gerechtigkeit ihren Lauf gelassen.
Und ganz bestimmt hätte sich Liuzzo nicht von dem Traum verführen lassen, hinter das Geheimnis zu kommen, wie man Blut in Eisen verwandelte.
Mondino verließ mit schweren Schritten den Raum, bevor die Pause zwischen den Gängen endete und jemandem seine Abwesenheit auffiel. Er wollte sich weder verabschieden noch Erklärungen abgeben müssen. Es war besser so. Sein Onkel würde ihn schon entschuldigen.
Kaum dass er das Haus verlassen hatte, trat er in einen Pferdehaufen, weil Mondino so in Gedanken versunken war, dass er nicht darauf achtete, wohin er seine Füße setzte. Er musste stehen bleiben und seinen Lederschuh mit einem Stöckchen säubern. Liuzzos Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf.
Er hatte ihn belügen müssen, da er ihm keinesfalls die Wahrheit offenbaren konnte. Jetzt, da eine zweite Leiche aufgetaucht war, wuchs die Gefahr noch, in die er sich und seine Familie gebracht hatte, indem er Gerardo geholfen hatte. Er wusste, dass Liuzzo ihn hart kritisiert hätte, wenn er ihm alles erzählt hätte. Er hätte ihm an den Kopf geworfen, dass er ein unverantwortlicher, impulsiver Dummkopf sei, wie schon in der Vergangenheit. Und das hätte Mondino diesmal nicht ertragen können.
Vor allem, weil er mittlerweile selbst dachte, dass es stimmte.
Das Gespräch begann, sich in die falsche Richtung zu entwickeln. Uberto da Rimini hatte sich die Mühe gemacht, durch unsichere und sumpfige Gebiete bis nach Argenta zu reisen, um sich mit einer wichtigen Bitte an den Erzbischof von Ravenna, Rinaldo da Concorezzo, zu wenden. Er war sicher, dass er die nötigen Argumente zur Hand hatte, um ihn zu überzeugen. Stattdessen hatte der kirchliche Würdenträger sofort sein Vorgehen wegen des Brandes vom vergangenen Donnerstag kritisiert, das keinen Leichnam zutage gefördert hatte.
»Monsignore, verzeiht meinen Eifer«, sagte Uberto mit zusammengebissenen Zähnen und bemühte sich krampfhaft, möglichst demütig zu blicken. »Aber die Person, die uns dies mitgeteilt hat, hat sich bisher stets als verlässlich erwiesen.«
»Das bezweifele ich nicht«, erwiderte der Erzbischof. »Doch es bleibt bestehen, dass Ihr keine Beweise gefunden habt.«
Genau diese Mentalität eines Winkeladvokaten hatte Rinaldos Karriere in der Kurie begünstigt. Doch Uberto konnte nicht begreifen, wie der Papst einen so schwachen Menschen damit beauftragen konnte, den Prozess gegen die Tempelritter in Norditalien zu leiten, eine Aufgabe, die ganz andere Leute erfordert hätte. Personen, die in Ausnahmesituationen schon einmal bereit waren, die Normen des üblichen Handelns zu überschreiten. Leute wie ihn zum Beispiel.
»Wir haben keine Beweise gefunden, weil sich noch jemand in der Wohnung aufgehalten hat. Anstatt die Tür zu öffnen, hat die Person Feuer gelegt und ist mit der Leiche über die Dächer geflohen.«
»Gibt es wenigstens dafür Beweise?«, fragte Rinaldo gleichmütig.
Sie befanden sich in dem Saal, in dem der Erzbischof wichtige Gäste empfing, und Uberto hatte dieses Zeichen von Respekt zufrieden bemerkt. Doch Rinaldo da Concorezzo machte keine Anstalten sich zu setzen, also musste auch er in diesem großen zugigen Raum stehen bleiben und frieren. Er hatte den Verdacht, dass der Erzbischof dies mit Absicht tat, und fühlte, wie die Röte in seine Wangen stieg.
»Nein, Monsignore, wir haben keine absolute Sicherheit, dass sich jemand in der Wohnung aufgehalten hat, aber dennoch …«
»Wie könnt Ihr dann von Mord sprechen, von einem Pakt mit dem Bösen, einer Flucht über die Dächer mit einer Leiche auf dem Rücken? Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, und ich bin nicht bereit, sie einfach so zu akzeptieren, solange konkrete Beweise fehlen, um sie zu untermauern.«
Uberto musste sichtbar an sich halten, antwortete dann aber gleichmütig, dass es vermutlich einfacher wäre, wenn der Erzbischof ihm erlaubte, alles von Anfang an zu erzählen.
Rinaldo da Concorezzo ging zum offenstehenden Fenster und drehte sich dann so, dass ihm die warme Sonne des frühen Nachmittags auf den Rücken scheinen konnte.
»Erzählt denn, Vater«, sagte er.
Uberto begann mit dem anonymen Brief, der vor drei Abenden die Basilika San Domenico erreicht hatte. Der Verfasser hatte ihn unter der Tür des Konvents hindurchgeschoben, kräftig geklopft und war danach verschwunden. Es war nicht zum ersten Mal, dass sie auf diese Weise Informationen erhielten - immer von derselben Person verfasst, wie die Schrift der Briefe zeigte, und immer hatten sie sich als äußerst nützlich erwiesen. Einige Tempelritter, die der ersten Verhaftungswelle entkommen waren, hatte man dank dieses geheimnisvollen Informanten festnehmen können.
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