«Ich habe absolut nichts mehr zu verlieren«, hatte er vorhin unten zu Carolin gesagt. Dies Bewußtsein mochte ihm die Zielstrebigkeit verleihen, mit der er seinen Plan verfolgte.
Sie schloß den Koffer mit all den unsinnigen Sachen darin, sah sich nach ihrer Handtasche um. Sie hätte wahrscheinlich die Möglichkeit, die Polizei zu verständigen. Oder Wolfgang. Robert ließ sie und Carolin sich frei im Haus bewegen, spielte keineswegs den scharfen Bewacher. Sie hätte Jens und Tim vorhin einen Tip geben können. Sie hatte es nicht getan, und sie fragte sich, ob das ein Fehler gewesen war.
Aber was sollte aus Felix werden? Sie wußte nicht, ob es Instinkt war oder die Tatsache, daß sie Robert gut genug kannte, aber sie hatte das sichere Gefühl, daß er, sollte sie oder Carolin ihn verraten, Stillschweigen über Felix’ Aufenthaltsort bewahren würde bis zum Jüngsten Gericht. Er war rachsüchtig und fanatisch. Und er hatte — sie kam immer wieder auf denselben Punkt zurück — nichts zu verlieren.
Ich kann nur eines tun, dachte Leona: mitspielen, solange es geht. Das ist vielleicht im Moment die einzige Chance.
Irgendwann würden sie durch eine Paßkontrolle gehen müssen. Sie hoffte von ganzem Herzen, daß dann niemand die Nerven verlor.
Als sie hinunterkam, traf sie nur Carolin im Wohnzimmer an. Auf dem Tisch stand eine Kanne mit frischem Kaffee, daneben die drei benutzten Tassen. Carolins Gesicht sah knochig aus, ihre Lippen waren grau.
«Wo ist Robert?«fragte Leona und stellte ihren Koffer ab.
«Der macht irgend etwas an seinem Auto. Er will schnell los. Leona, was sollen wir nur tun?«
Carolin riß die Augen auf wie ein Kind, das angstvoll und ratlos darauf wartet, daß ein Erwachsener eine Lösung finden wird.
«Du kannst doch jetzt nicht mit ihm davonfahren und nach Südamerika fliegen?!«
«Ich denke, daß wir so weit gar nicht kommen werden.«
Leona sprach schnell und leise und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, daß Robert noch nicht wieder aufgetaucht war.
«Spätestens bei der Paßkontrolle fliegt Robert auf. Meiner Ansicht nach kommt er nicht aus dem Land hinaus, zumindest nicht aus Europa.«
«Und dann? Wenn sie ihn festnehmen? Dann sagt er nie, wo Felix ist! Leona, ich habe so furchtbare Angst! Wer weiß, wo er ihn versteckt hat! Der Mann ist doch zu allem fähig. Am Ende hat er ihn schon…«
Ihre Stimme brach, sie begann schon wieder am ganzen Körper zu zittern.
Leona umfaßte ihre Schultern und sah ihr in die Augen.
«Carolin! Nicht durchdrehen! Felix ist am Leben, und es geht ihm gut. Davon bin ich überzeugt. Ich kenne Robert. So verrückt das klingt, aber er folgt seinem ganz persönlichen Ehrenkodex in allem, was er tut, und er geht ganz sicher nicht hin und tötet ein unschuldiges Kind. Hörst du? Ganz sicher nicht!«
«Woher willst du wissen…«
«Ich weiß es. Und Felix ist jetzt nicht mit einer Mutter geholfen, die die Nerven verliert. Du mußt einen klaren Kopf behalten. Verstehst du das?«
Carolin hörte auf zu zittern.
«Ja.«
Leona schaute sich noch einmal um. Robert war noch nicht wiederaufgetaucht.
«Ich habe hin und her überlegt, ob wir die Polizei verständigen sollen. Ich fürchte nur, Robert klappt dann zu wie eine Auster. Ich weiß nicht, von wo aus er fliegen will, aber in jedem Fall werde ich eine ganze Weile mit ihm im Auto sitzen. Vielleicht kriege ich ihn dazu, daß er redet. Es ist jedenfalls eine Chance. Wenn du bis heute abend nichts gehört hast, sagst du Wolfgang Bescheid. Er soll dann entscheiden, was zu tun ist.«
«Ich kann dich doch nicht zu einem Killer ins Auto steigen lassen!«sagte Carolin verzweifelt.
Sie machte sich von Leona los, kauerte sich wieder auf das Sofa.
«Ich bin an allem schuld! Mami hat noch gesagt, ich soll das Kind daheim lassen, ich soll es nicht in Gefahr bringen, und ich… ich fand sie wieder nur lästig mit ihren Ermahnungen und sagte ihr, sie sei überängstlich…«
Leona vibrierte vor Ungeduld. Es war keine Zeit für Selbstanklagen und Vorwürfe.
«Das können wir alles später klären«, sagte sie,»du kannst dich zerfleischen, solange du willst, aber im Augenblick bringt das nichts. Also, du weißt, heute abend wirst du…«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Robert trat ins Zimmer. Die Nervosität, die während der letzten Stunden immer wieder spürbar geworden war, schien ihn verlassen zu haben. Er wirkte optimistisch und fröhlich. Alles lief nach seinen Wünschen. Leona stand mit einem gepackten Koffer bereit, ihm in ein neues, gemeinsames Leben zu folgen.
«Alles in Ordnung. Ich habe nur die Scheibenwaschanlage aufgefüllt.«
Er hörte sich an wie ein solider Familienvater, der den Wagen vor dem Aufbruch in die Ferien gewartet hatte.
«Wir können starten, Leona.«
«Zu welchem Flughafen möchtest du?«fragte Leona betont gleichmütig.
Er warf ihr einen scharfen Blick zu.
«Das können wir dann im Auto besprechen.«
Er nahm ihren Koffer.»Auf Wiedersehen, Carolin. Oder ist wiedersehen das falsche Wort? Wir sehen uns sicher nie wieder. Ich bin nicht allzu traurig darüber, und du bestimmt auch nicht. Ich glaube nicht, daß wir eine Chance gehabt hätten, jemals Freunde zu werden.«
«Ich glaube das auch nicht«, erwiderte Carolin mit versteinerter Miene.
«Leona wird in Zukunft nichts mehr mit ihrer Familie zu tun haben«, fuhr Robert fort.»Wie du siehst, hat sie beschlossen, von nun an mit mir in Südamerika zu leben. Ich werde der einzige Mensch für sie sein.«
Carolin sagte nichts. Leona lächelte ihr aufmunternd zu.
«Es wird alles gut werden«, sagte sie.
«Natürlich wird es das!«mischte sich Robert sofort ein.»Komm jetzt, Leona. Wir rufen dann an, Carolin. Du hältst deinen Zuckerjungen ganz bald wieder in den Armen!«
Sie traten aus dem Haus hinaus in den strahlenden Morgen. Zum ersten Mal nahm Leona den weißen Kleinwagen mit Frankfurter Kennzeichen wahr, der in der Einfahrt parkte. Sie fragte sich, wem er gehören mochte. Hatte der Eigentümer das Auto freiwillig hergegeben?
Wolfgang erfuhr um zehn Uhr an diesem Sonntag morgen, daß Robert Jablonski Lydia Behrenburg in ihrer Wohnung überfallen, gefesselt und hilflos liegengelassen, sich sodann mit ihrem Auto aus dem Staub gemacht hatte. Ein Kriminalbeamter, den er nicht kannte, tauchte bei ihm auf und unterrichtete ihn davon. Er hieß Schuborn, soviel bekam Wolfgang noch mit; den Rang hatte er sich schon nicht mehr gemerkt.
Er erschrak zutiefst. Er hatte im ersten Moment gehofft, der Beamte werde ihm mitteilen, man habe Jablonski verhaftet. Eine Sekunde lang hatte er sogar schon gedacht: Gott sei Dank, der Alptraum ist vorbei! Endlich werden wir wieder ganz normal leben können.
Als er dann hörte, daß der Feind erneut zugeschlagen hatte, daß es der Polizei keineswegs gelungen war, ihn festzusetzen, wurde ihm schwindelig. Offenbar war das seinem Gesicht anzusehen, denn Schuborn faßte ihn rasch am Arm.
«Ist Ihnen nicht gut? Möchten Sie ein Glas Wasser?«
«Es geht schon, danke. «Der Schwindel verebbte.»Er hat jetzt ein Auto, sagen Sie?«
Schuborn nickte.»Ein wirklich brutaler Typ. Diese arme Frau hatte ihn versehentlich in ihre Wohnung gelassen. Er hat sie, verschnürt wie ein Paket, auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer liegengelassen. Sie hatte die Möglichkeit, Wasser zu trinken, aber sie ist trotzdem völlig entkräftet, hat schwerste Durchblutungsstörungen und einen Schock. Sie ist sofort ins Krankenhaus gebracht worden.«
«Wie hat man sie entdeckt?«
«Sie war gestern mit einer Besucher in aus München verabredet. Der jungen Frau kam es merkwürdig vor, daß niemand öffnete. Sie hat keine Ruhe gegeben, bis eine Nachbarin Frau Behrenburgs Wohnung aufschloß und nach ihr sah. Frau Behrenburg wäre nicht mehr lange am Leben geblieben.«
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