Lisa setzte sich auf eine der Stufen vor der Haustür. Nun, da sie wußte, jemand würde in Lydias Wohnung nach dem Rechten sehen, fiel alle Anspannung von ihr ab. Auch das» dumme Gefühl«, das sie seit dem Vortag begleitet hatte, löste sich auf. Sie kam sich plötzlich nur noch lächerlich vor. Lydia Behrenburg hatte sie sicher einfach vergessen, weil die ganze Geschichte für sie keinerlei Bedeutung hatte. Sie machte irgendwo Ferien und lebte vergnügt in den Tag hinein, während eine unwillige Nachbarin in den frühen Morgenstunden eines sonnigen Sonntags ihre Wohnung durchstreifte.
Gerade als sie bei diesem Gedankengang angelangt war, hörte sie von oben einen Schrei, so markerschütternd, daß sie entsetzt aufsprang. Lydias Nachbarin lehnte sich so weit aus dem Fenster, daß ihre riesigen Brüste sie schon fast hinunterzuziehen drohten. Sie war krebsrot im Gesicht.
«Polizei!«schrie sie.»Polizei! Polizei!«
Sie hielt inne und starrte herab zu Lisa.
«O Gott, o Gott«, stammelte sie.»Rufen Sie die Polizei, Kind! Rufen Sie sofort die Polizei!«
«Dürfte ich mal Ihr Telefon benutzen?«fragte Lisa.
Kurz darauf ertönte der Summton, mit dem sich die Eingangstür öffnete, und Lisa konnte endlich das Haus betreten, vor dem sie so lange vergeblich gewartet hatte.
Um halb acht rief Wolfgang an. Leona war sofort am Apparat.
«Ja bitte?«fragte sie.
«Leona?«Wolfgang klang atemlos.»Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Ich weiß, es ist ziemlich früh… ich bin gerade beim Joggen, und da kam ich an dieser Telefonzelle vorbei. Da dachte ich… wie geht es dir?«
«Gut. Du hast mich nicht geweckt. Ich war schon auf.«
Ich war gar nicht erst im Bett, fügte sie in Gedanken hinzu.
«Das freut mich. Ist es nicht ein herrlicher Tag heute? Leona — ist Carolin bei dir?«
«Das weißt du doch. Du hast sie mir schließlich geschickt.«
«Bist du mir böse? Ich glaube wirklich nicht, daß das zu riskant war.«
Nein, dachte sie, das war es nicht. Der Feind war längst hier. Und die Dumme, die dafür verantwortlich ist, bin allein ich!
«Leona? Bist du noch da? Ich wollte wissen, ob du mir böse bist!«
«Nein. Es ist schön, Carolin hierzuhaben.«
«Ich hoffe, sie bringt dich von deinem verrückten Plan, heute abend nach Hause zu kommen, ab. Hat sie schon mit dir gesprochen?«
Der Abend! Sie hatte am Abend wieder daheimsein wollen, das hatte sie völlig vergessen.
Sie sah hinüber zum Eßtisch. Robert saß dort lässig in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Kaffeetasse in der Hand. Sein siebter oder achter Kaffee an diesem Morgen. Er sah nicht mehr ganz so elend und müde aus wie vorher. Seine Wangen hatten etwas Farbe bekommen.
Carolin kauerte auf dem Sofa, die Beine eng an den Körper gezogen, beide Arme darumgeschlungen. Ihr Kopf ruhte auf ihren Knien. Eine Dreiviertelstunde zuvor hatte sie einen Weinkrampf erlitten, hatte nicht aufhören können zu zittern und zu schluchzen. Leona hatte das Medikamentenschränkchen im Bad durchsucht, das vorwiegend Arzneimittel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum enthielt. Sie hatte Baldriantropfen gefunden, die noch tauglich schienen, und sie für Carolin in einem Glas Wasser aufgelöst. Die Schwester war dann tatsächlich ruhiger geworden und wieder in einen Erschöpfungszustand gefallen. Völlig unbeteiligt hatte sie seitdem allem zugehört, was zwischen Robert und Leona gesprochen worden war.
«Ich werde heute abend nicht nach Hause kommen, Wolfgang«, sagte Leona.
Robert blickte auf, runzelte die Stirn. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß sie ihr Exil an diesem Tag hatte aufgeben wollen.
«Ich denke, daß ihr alle recht habt. Ich sollte noch eine Weile aushalten.«
Wolfgangs Erleichterung war durch die Telefonleitung hindurch spürbar.
«Ich bin wirklich froh, daß du zu dieser Erkenntnis gekommen bist. Es ist einfach am vernünftigsten. Du wirst sehen, Robert Jablonski sitzt ganz bald hinter Schloß und Riegel.«
Sie unterdrückte ein hysterisches Lachen.
«Sicher. Du hast recht.«
«Also, Leona, ich werde jetzt weiterrennen. Paß gut auf dich auf, hörst du? Ich brauche dich noch.«
Er wartete, daß sie etwas erwiderte, aber sie sagte nichts.
«Ich rufe heute abend wieder an«, meinte er schließlich und legte auf.
Leona ging zum Tisch zurück.
«Das war Wolfgang.«
Robert nickte.»Hab’ ich mir schon gedacht. Du wolltest heute abend heimkehren in seine starken Arme?«
«Nicht in seine starken Arme. Aber ich wollte nach Hause zurück, ja.«
«Und warum? Du hattest doch solche Angst vor mir, daß du dich in der tiefsten Einöde verstecken mußtest. Jetzt plötzlich nicht mehr?«
«Nein«, sagte sie knapp und in einem Ton, daß Robert nicht mehr weiterfragte.
«Nun«, sagte er nach einer Weile,»die Dinge sind klar. Wir sollten jetzt bald aufbrechen. Du wolltest noch deinen Paß holen und dein Geld.«
«Ich muß auch noch ein paar Sachen zusammenpacken.«
«Gut, gut. Dann mach das jetzt. Du solltest nicht auf Verzögerung setzen, Leona. Die Zeit wird Carolins kleinem Liebling in seinem Versteck verdammt lang werden.«
Leona verließ das Zimmer, und Carolin starrte Robert an.
«Nie in meinem Leben habe ich einen so gemeinen Menschen getroffen«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Robert schien ihr diese Aussage nicht übelzunehmen.
«Ich weiß gar nicht, weshalb du dich noch aufregst, Carolin. Sowie Leona und ich in Südamerika sind, rufen wir an und sagen dir, wo du Felix findest.«
«Das kann unter Umständen erst übermorgen sein!«
«Ich habe dir schon mal gesagt: Er hat Essen und Getränke für einige Tage. Er kann das gut aushalten.«
«Er ist ein Kind!«sagte Carolin. In ihrer Stimme kündigte sich erneut Panik an.»Er ist ein fünfjähriges Kind! Er hat Angst. Er weiß nicht, was los ist. Er… ich darf mir das nicht ausmalen…«
Sie preßte das Papiertaschentuch, das Leona ihr gegeben hatte, gegen den Mund.
«Ein paar Gründe mehr, unverzüglich mit mir zu kooperieren«, entgegnete Robert ungerührt.
Er griff nach der Kaffeekanne und stellte fest, daß sie leer war.
«Machst du mir noch einen Kaffee?«
«Mach ihn dir doch selbst«, murmelte Carolin.
Robert stand auf und ging in die Küche.
Oben, in ihrem Zimmer, packte Leona hastig ein paar Sachen in einen kleinen Koffer. Sie merkte gar nicht genau, was sie da zusammenwarf. Wäschestücke, Schuhe, einen Pullover… In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie überlegte fieberhaft, was sie am besten tun sollte.
Robert hatte gesagt, er wolle mit ihr ins Ausland. Nach Südamerika.
«Hast du Flugtickets?«hatte sie gefragt.»Oder Geld?«
Er hatte stolz genickt.»Ich habe eine Scheckkarte. Ich kann Geld abheben, soviel ich will. Die Tickets sind also kein Problem.«
Wie stellte er sich das vor? Er wurde mit Haftbefehl gesucht. Glaubte er, es sei so einfach für ihn, in ein Flugzeug zu steigen und Deutschland zu verlassen? Er fühlte sich unendlich sicher durch die Tatsache, daß nur er wußte, wo sich Felix’ Versteck befand. Leona aber war der Ansicht, daß ihm das nur Sicherheit gab, solange es sie und Carolin betraf. Sie beide spurten, weil sie verrückt waren vor Angst um das Kind, besonders Carolin. Die Polizei würde ihn nicht tatenlos ziehen lassen. Sie würden ihn nicht nach Südamerika reisen lassen, sie würden ihn festnehmen und verhören, so lange, bis er mit der Sprache herausrückte.
War ihm das nicht klar?
Sie sagte sich, daß er verrückt war. Auch wenn man es ihm nicht anmerken konnte, auch wenn er völlig normal wirkte im Gespräch — er war verrückt, das mußte sie sich immer wieder vor Augen halten. Er hatte zwei Menschen bestialisch ermordet. Er hatte Paul beinahe totgeschlagen. Sie erinnerte sich an die Mordlust, die sie in seinen Augen gelesen hatte, als er in Ascona über ihren abgelegten Ring die Nerven verlor. Er war krank, und vermutlich rechnete er sich die Konsequenzen seines Handelns nicht aus, machte sich nicht klar, daß er kaum eine Chance hatte, in ein Flugzeug zu gelangen. Oder er machte es sich klar, setzte aber alles auf eine Karte.
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