Ben saß als einziger der Familie nicht mit am Tisch. Er war erst gegen vier Uhr morgens von einer Party zurückgekommen und schlief noch.
«Ich habe ihm nichts gesagt«, entgegnete Carolin kurz.
«Fahren wir zu Tante Leona?«fragte Felix aufgeregt.
Carolin nickte.»Klar. Heute noch. Und du darfst mit!«
«Du solltest das Kind hierlassen«, sagte Elisabeth.»Das alles ist nicht ungefährlich. Verstricke den Kiemen nicht in diese Geschichte!«
«Mami, du siehst wieder einmal Gespenster. Robert hat keine Ahnung, wo Leona ist, sonst hätte er sich nämlich längst bei ihr blicken lassen. Er ist auch nicht hier, um mir zu folgen. Er hockt selber irgendwo in einem Versteck und hofft, daß ihn die Bullen nicht finden. Es gibt überhaupt keinen Grund zur Sorge!«
Sie brach eineinhalb Stunden später auf. Julius lieh ihr seinen Wagen, nicht ohne zu betonen, sie solle seiner Ansicht nach lieber daheim bleiben. Felix saß auf der Rückbank in seinem Kindersitz, hatte Spielsachen und Malpapier neben sich liegen und war voller Vorfreude. Er mochte Tante Leona. Sie war immer so nett zu ihm und schenkte ihm Kaugummi oder Wasserpistolen. Er war gespannt, ob sie diesmal wohl auch eine Überraschung für ihn bereithielt.
Weit und breit war kein anderes Auto zu sehen, als Carolin die Landstraße entlangfuhr. Niemand folgte ihr, niemand schien sie zu beobachten. Entspannt lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück.
Sie freute sich auf das Wiedersehen mit Leona.
Kurz bevor der Zug in Frankfurt einfuhr, verließ Lisa noch einmal ihr Abteil. Sie wollte sich in der Toilette frisch machen und außerdem einen letzten Versuch unternehmen, Lydia vom Zugtelefon aus zu erreichen. Sie hatte es am Vortag fünfmal bei ihr probiert, aber nie war jemand an den Apparat gegangen. Es hatte Lisa irritiert, von der Frau, mit der sie eine Verabredung getroffen hatte, nichts mehr zu hören, aber sie sagte sich, daß Lydia berufstätig sein mochte oder verreist war und trotzdem am Samstag um ein Uhr wie besprochen in ihrer Wohnung auf sie warten würde. Sie hoffte von ganzem Herzen, daß die Fremde nicht ihre Meinung geändert hatte und einem Gespräch über Robert Jablonski nun aus dem Weg gehen wollte. Während ihres ersten — und bisher letzten — Telefongespräches hatte Lisa Lydia gebeten, es ihr aufrichtig zu sagen, wenn sie letztlich doch keine Zusammenkunft wünschte.
«Sie können mich jederzeit anrufen. Wenn ich nicht da bin, läuft ein Band. Ich könnte es verstehen, wenn Sie über all diese Dinge nicht mehr sprechen wollten, obwohl ich mir natürlich sehr wünschen würde, etwas über den Mann zu erfahren, der… der meine Schwester umgebracht hat.«
Lydia hatte den Eindruck gemacht, als erschrecke sie geradezu bei der Vorstellung, die Verabredung könne am Ende noch scheitern.
«Nein, wo denken Sie hin! Natürlich werde ich alle Fragen beantworten.«
Sie legte einen Übereifer an den Tag, den Lisa fast als etwas aufdringlich empfand.
«Wissen Sie, ich freue mich auf Ihren Besuch. Ich bin Frührentnerin, und es gibt so wenige Menschen in meinem Leben…«
Stimmt, Frührentnerin hat sie gesagt, dachte Lisa nun, während sie sorgfältig die Tür der Zugtoilette hinter sich verriegelte. Dann ist sie also nicht berufstätig! Komisch, daß sie dann den ganzen Tag und Abend nicht ans Telefon geht.
Andererseits — es kann tausend Gründe dafür geben.
Der Zug schwankte und schaukelte. Irgend jemand hatte gründlich danebengepinkelt. Lisa haßte solche Leute. Kaum standen sie unter dem Schutz der Anonymität, und kaum benutzten sie ein fremdes Bad, fielen Zivilisation und Erziehung von ihnen ab, und sie benahmen sich wie Höhlenmenschen — falls nicht diese sogar mehr Manieren an den Tag gelegt hatten. Vermutlich waren es solche Leute sogar, die sich nachher am lautesten über den Hundekot in den Straßen beschwerten.
Lisa balancierte um die widerliche Pfütze herum und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Das Licht in diesem Raum war miserabel und verlieh ihr eine kränkliche Hautfarbe. Sie legte etwas mehr Make-up auf, tupfte mit dem Rougepinsel ein paarmal über ihre Wangenknochen. Sie tuschte die Wimpern nach und malte sorgfältig die Lippen in einem dunklen Rot aus. Sie genoß es, schöne, teure Kosmetik zu benutzen, nicht mehr das billige Kaufhauszeug. Auch machte es Spaß, wirklich elegante Klamotten zu kaufen, sich in feinen Geschäften beraten zu lassen.
Für die Fahrt nach Frankfurt hatte sie einen Hosenanzug aus rehbraunem, sehr feinem Wildleder gewählt; darunter trug sie eine cremefarbene Seidenbluse. In den Ohren und um den Hals Perlen — echte Perlen! Das Geschenk eines Immobilienmaklers aus Düsseldorf, der sie für einen Abend in München gebucht hatte. Sie waren ins Theater und danach in ein Restaurant gegangen, und dann war er ihr ohne viele Umschweife in ihre Wohnung gefolgt. Er hatte sie gefragt, ob sie tolerant sei, und durchblicken lassen, daß er sich ihre Toleranz einiges würde kosten lassen. Lisa war längst an einem Punkt angelangt, an dem sie die Dinge nur noch unter dem geschäftlichen Aspekt sah. Seine Wünsche erwiesen sich in der Tat als höchst ausgefallen, aber offenbar erfüllte sie sie zu seiner Zufriedenheit. Am nächsten Morgen schleppte er sie zu einem
Juwelier und zahlte ein halbes Vermögen für die Perlen. Er würde einmal im Monat nach München kommen, kündete er an, und Lisa hatte bei dem Juwelier schon einen Brillantring erspäht, auf den hinzuarbeiten sie beschlossen hatte.
Trotz des penetranten Uringestanks und der unschönen Beleuchtung mußte Lisa lächeln. Kaum zu glauben, welch positive Wendung ihr Leben genommen hatte! Eine hübsche Wohnung, schöne Kleider, Geld, unterhaltsame Abende mit reichen, interessanten Männern. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Dasein liebte sie ihr Leben wirklich. Und doch hatte sie immer wieder das Gefühl, es gebe da etwas, das sie hinderte, ihre Freude so hemmungslos auszukosten, wie sie das gerne getan hätte. Immer wenn sie sich hinsetzen, tief durchatmen und ihr Glück mit allen Fasern spüren wollte, schlich sich etwas Dunkles, Drohendes, dessen Herkunft und Beschaffenheit sie nicht ausmachen konnte, heran und setzte sich wie ein großes Hindernis in die Bahnen, über die ihre Freude strömen wollte. Jedesmal versuchte sie,»es«, wie sie es nannte, beiseite zu schieben, jedesmal scheiterte der Versuch. Es durchzog ein Gift ihr Leben, dessen sie nicht Herr werden konnte. Irgendwann war ihr der Gedanke gekommen, es könne mit ihrer Schwester zusammenhängen, und daher hatte sie Kommissar Hülsch aufgesucht, von dem sie spürte, daß er es immer gut mit ihr gemeint hatte. Nun hoffte sie, das Wochenende mit Lydia würde» es «für alle Zeiten in der Versenkung verschwinden lassen. Wenn nur die Alte nicht plötzlich kniff!
Wäre eine Frechheit, dachte Lisa, nachdem ich mich stundenlang in den Zug gesetzt habe!
Sie tupfte etwas Parfüm hinter die Ohren und verließ die Toilette. Ein Mann, der gerade vorbeikam, starrte sie bewundernd an.
Ihr Herz klopfte schneller. Ich will es genießen! Ich will es genießen, solange ich jung bin!
Sie durchquerte den halben Zug, bis sie den Speisewagen erreichte, wo sich das Telefon befand. Sie wählte Lydias Nummer und ließ es klingeln, bis die Verbindung abbrach. Niemand meldete sich.
Lisa runzelte die Stirn. Es war halb zwölf. In eineinhalb Stunden sollte sie in Lydias Wohnung sein.
Und die Frau war immer noch nicht daheim!
Lisa leistete sich ein Taxi vom Hauptbahnhof zu Lydias Adresse. Lydia hatte ihr zwar beschrieben, wie sie mit der Straßenbahn zu ihr gelangen konnte, aber das erschien ihr zu umständlich.
Der Taxifahrer musterte sie ständig im Rückspiegel.
Wenn der wüßte, in welch absurder Mission ich im Grunde unterwegs bin, dachte sie.
Nachdem sie ihn vor Lydias Haus bezahlt hatte und er davongefahren war, fragte sie sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Hätte sie ihn vorsichtshalber bitten sollen, zu warten? Aber dann beschloß sie, auch wenn Lydia immer noch nicht dasein sollte, keinesfalls sofort umzukehren.
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