«Mir geht es gut«, sagte sie,»wirklich. Es ist ein schöner Abend.«
Jens setzte sich auf den Baumstamm neben sie.
«Sie haben den Mann gar nicht mitgebracht.«
«Welchen Mann?«
«Den, der neulich bei Ihnen war. An dem Abend, als ich kam.«
«Ach, der«, sagte Leona. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.»Der war schon am nächsten Tag wieder fort.«
Jens nickte.»Mein Freund Tim findet Ihre Schwester toll«, sagte er vertraulich.
«Ist das der, mit dem sie tanzt?«
«Ja. Er sagt, sie sieht einfach klasse aus.«
Leona fand, daß Tim recht hatte. Es machte Spaß, Carolin beim Tanzen zuzusehen. Sie bewegte sich graziös und anmutig wie eine zarte Elfe.
«Möchten Sie vielleicht auch tanzen?«fragte Jens, und trotz der nun tiefer werdenden Dunkelheit konnte Leona erkennen, wie ihm das Rot in die Wangen schoß. Sie stellte ihr Glas ab.
«Gern«, sagte sie.
Lisa hatte eine kleine Pension in einer der ruhigen Wohnstraßen des Viertels gefunden, nur zwei Ecken entfernt von dem Haus, in dem Lydia wohnte. Glücklicherweise waren Zimmer frei.
«Es kann sein, daß eine Bekannte von mir hier sogar ein Zimmer für mich vorbestellt hat«, hatte sie der Besitzerin bei der Ankunft gesagt.»Sie heißt Lydia Behrenburg. Das Zimmer müßte reserviert sein für Lisa Heidauer.«
Die Frau hatte in einem Buch nachgesehen und den Kopf geschüttelt.»Nein. Hier ist nichts vorbestellt.«
«Oh — dann habe ich mich getäuscht. Ich brauche trotzdem ein Zimmer.«
Natürlich mußte das nichts bedeuten. Lydia konnte dennoch ein Zimmer für sie bestellt haben — in einer anderen Pension oder in einem Hotel.
Obwohl, dachte sie, dies hier ideal gewesen wäre. Fünf Minuten zu Fuß von ihrer Wohnung entfernt!
Alles deutete darauf hin, daß Lydia Behrenburg den ihr angekündigten Besuch völlig vergessen hatte. Wenn ihr Auto verschwunden war, dann war sie wohl tatsächlich verreist.
War sie einfach eine schusselige alte Tante, die Verabredungen so schnell vergaß, wie sie sie traf?
Lisa hatte ihren kleinen Koffer ausgepackt, sich geduscht und ein leichtes Kleid angezogen. Als sie am Morgen in München aufgebrochen war, hatte noch frischer Tau über allen Wiesen gelegen, und die Luft war kühl gewesen. Inzwischen hatten die Temperaturen sommerliche Werte erreicht. Im Kessel Frankfurt herrschte drückende Schwüle.
Sie verbrachte den Nachmittag damit, durch die Stadt zu bummeln, die Hochhäuser zu bestaunen und in Schaufenster zu blicken, sich Dinge auszusuchen, die sie kaufen würde, wären die Geschäfte offen oder hätte sie genügend Geld.
Am Spätnachmittag war sie noch einmal bei Lydia vorbeigegangen, ohne allerdings wirklich die Hoffnung zu hegen, ihre Gastgeberin könnte inzwischen daheim aufgekreuzt sein. Natürlich blieb alles so still wie vorher.
Sie ging in die Pension zurück, legte sich auf ihr Bett und schlief tatsächlich nach einer Weile ein. Als sie aufwachte, war es schon dämmrig draußen, und durch das geöffnete Fenster drang ein leiser Windhauch, der die lastende Hitze ein wenig erträglicher machte. Lisa stellte fest, daß es fast neun Uhr geworden war. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen. Sie würde sich irgendwo ein Bistro suchen und eine Kleinigkeit zu sich nehmen.
Sie ging wiederum an Lydias Haus vorbei, klingelte erneut, starrte an der Fassade empor und hoffte wider alle Vernunft, Lydias Stimme durch die Sprechanlage zu hören. Es befiel sie ein eigenartiges Gefühl, ein Gefühl, daß etwas nicht stimmte, aber sie sagte sich, daß dies kein Wunder sei, denn es stimmte ja tatsächlich etwas nicht: Es war nicht üblich, eine Verabredung, zu der sich einer der Beteiligten über mehrere hundert Kilometer weit herbeibemühen mußte, einfach zu vergessen.
Sie hatte dann tatsächlich ein kleines Bistro gleich an einer dichtbefahrenen Hauptverkehrsstraße gefunden und sich an einen der kleinen, runden Tische draußen auf dem Bürgersteig gesetzt. Sie bestellte einen Salat, Fisch und Mineralwasser. In ihrem Job mußte sie auf die Figur achten.
Es war inzwischen nach zehn Uhr, sie saß zurückgelehnt, rauchte eine Zigarette. Ein Mann war an ihren Tisch getreten, hatte sie gefragt, ob sie schon etwas vorhabe heute abend, und sie hatte ihn ziemlich direkt, fast grob abblitzen lassen. Schließlich war sie nicht im Dienst, und außerdem verursachte ihr die Geilheit in den Augen der Männer an manchen Abenden Übelkeit. Heute war so ein Abend.
Sie hatte Kopfweh, was an der Hitze, den Reisestrapazen oder an der Frustration liegen mochte — oder an allem zusammen.
Ist es denn wirklich so wichtig, mit dieser Frau zu sprechen? fragte sie sich. Aber irgend etwas sagte ihr, daß es wichtig sei, sonst hätte sie nicht alles für den Besuch in die Wege geleitet; sonst würde sie sich jetzt nicht so elend, so zurückgewiesen, so tief enttäuscht fühlen.
Und dann war da auch noch diese andere Stimme; die, deren Flüstern sie schon vorher vernommen hatte, als sie vor Lydias Haus gestanden und vergeblich geklingelt hatte: die Stimme, die davon sprach, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Lydia Behrenburg war so versessen auf das Treffen gewesen. Lisa erinnerte sich, sie fast schon als aufdringlich empfunden zu haben. Sie hatte davon geredet, daß sie so wenig Kontakt mit anderen Menschen hatte und daß sie sich so freue auf Lisas Besuch. Lisa wußte noch, daß sie gedacht hatte: Meine Güte, die muß aber einen Notstand haben! So ein Gespräch mit mir über einen geisteskranken Verbrecher muß doch gräßlich sein für sie. Wie kann sie da so begeistert reagieren?
Und diese Frau verreiste nun einfach, diese einsame Person, die sich schon über den Anruf einer Wildfremden freute? Wohin sollte sie überhaupt reisen? Da gibt es viele Möglichkeiten, sagte Lisa zu sich, vielleicht ist jemand aus ihrer Familie krank geworden oder gestorben, und sie mußte Hals über Kopf dorthin reisen. Da hat sie dann an mich natürlich nicht mehr gedacht.
Irgendwie blieb das ungute Gefühl jedoch bestehen, auch dann noch, als sie bezahlte, aufstand und sich durch die stillen Straßen auf den Rückweg machte. Die warme Nacht duftete in einer Intensität, wie Lisa es lange nicht mehr erlebt hatte. Oder hatte sie nur nicht mehr darauf geachtet? Vielleicht war es ganz normal, daß sie dieses Gefühl von Bedrohung hatte; es lag an der Angelegenheit, in der sie unterwegs war, daran, daß das Verbrechen plötzlich in ihr Leben getreten war. Sie dachte, daß es kein Wunder war, daß die Angehörigen von Verbrechensopfern intensiver Hilfe und Unterstützung nach der Tat bedurften. Es ging nicht nur einfach darum, die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen zu bewältigen. Es ging darum, daß das Leben seine gewohnte Bahn verließ, wenn Gewalt und Wahnsinn in es eindrangen. Entgegen allem, was man sah und hörte ringsum auf der Welt, glaubte man nicht wirklich an die Existenz des Bösen. Schlug es zu, war man getroffen, als habe man nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung gezogen.
Und man zieht sie auch nicht in Erwägung, dachte Lisa. Bis es passiert, hält man sich für immun. Und danach fühlt man sich schutzlos und nackt wie ein neugeborenes Kind.
Auf einmal spürte sie den starken Wunsch, jemand würde sie in den Arm nehmen. Sie wünschte, sie könnte ihren Kopf anlehnen und weinen. Sie wünschte, jemand würde ihr sagen, daß sie keine Angst haben müsse. Sie wünschte, sie wäre ein kleines Kind, dem jemand Schokolade in den Mund steckte, damit es wieder lachen konnte.
Aber sie war kein Kind, und niemand erschien, um sie zu trösten. Sie ging allein durch die dunklen Straßen dieser fremden Stadt, und die anheimelnden Lichter aus den Häusern rechts und links, die Stimmen und das Gelächter, die gedämpft aus den rückwärtigen Gärten klangen, grenzten sie aus und warfen sie auf sich selbst zurück.
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