«Konnte sie davon leben?«
«Ganz gut. Die Wohnung gehörte ihr, und es blieb sogar noch ein Überschuß, den sie angelegt hatte. Die Möbel hatte sie alle mitgebracht. Ihr Mann hat ihr praktisch alles überlassen — vom Bügeleisen über den Herd bis zur Waschmaschine. Hoffte wohl, damit sein schlechtes Gewissen beruhigen zu können.«
Leona fragte nicht weiter, aber sie überlegte, wie das sein konnte. Eine attraktive und noch keineswegs alte Frau wie Eva Fabiani, so völlig allein, so ohne jeden Bezugspunkt außer einer geschwätzigen, ältlichen Nachbarin. Kein fester Job. Keine Freunde. Kein Mann. Es mußte die Einsamkeit gewesen sein, die sie zu dem tödlichen Sprung aus dem Fenster getrieben hatte. Mit achtunddreißig Jahren.
Robert lehnte sich etwas vor. Er nahm die Sonnenbrille ab. Er hat einen ausgesprochen durchdringenden Blick, dachte Leona.
«Ich habe gehört, daß meine Schwester noch etwas gesagt hat, ehe sie starb. Irgend etwas wie ›Jetzt ist es ihm gelungen‹ oder so ähnlich.«
«›Nun hat er es endlich geschafft‹«, sagte Leona.»Das waren ihre genauen Worte. «Robert verzog das Gesicht.»Ja«, sagte er bitter,»nun hat er es endlich geschafft.«
«Wer?«fragte Leona.
«Ihr Exmann. «Lydia schien unweigerlich immer wieder auf diesen Schuft zu kommen, den sie offenbar für jede Misere in Evas Leben verantwortlich machte.»Den hat sie natürlich gemeint.«
«Aber Lydia, Sie haben doch gesagt, die beiden waren seit vier Jahren geschieden! Sie können doch gar nicht mehr soviel Kontakt gehabt haben!«
«Sie hat gelitten«, erklärte Robert. Seine Stimme klang jetzt wieder emotionslos, gleichmütig.»Sie hat unter dieser Trennung gelitten wie ein Hund. Sie hatte schlimmste Depressionen. Manchmal schien sie halb verrückt vor Schmerz. Sie schaffte es nicht, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Ihr Selbstmord war die logische Konsequenz aus den letzten Jahren.«
«Dann hat er die Scheidung gewollt, nicht sie«, folgerte Leona.
Robert zündete sich eine Zigarette an, nachdem er den beiden Frauen die Schachtel hingehalten hatte, aber negativ beschieden worden war. Seine Finger zitterten ganz leicht. Traurigkeit? Erregtheit? Haß? Seine Stimme blieb monoton.
«Er hat sie betrogen«, sagte er.»Er hat sie so häufig, so skrupellos, so offensichtlich für jedermann betrogen, daß ihr schließlich keine Wahl mehr blieb, als die Scheidung einzureichen. Und damit begann dann ihr Sterben auf Raten.«
«Eigenartig«, sagte sie in die Dunkelheit des Zimmers hinein,»wenn am Ende eines jungen Lebens ganze drei Menschen bleiben, die das letzte Geleit geben: der Bruder, eine Nachbarin, von der man nicht weiß, ob sich die Tote an ihr festgeklammert hat oder ob sie von ihr bedrängt wurde, und eine ganz fremde Frau, die zufällig vorbeikam in jenem endgültigen Moment, da das Leben nicht mehr erträglich schien. Welch eine Zusammenstellung!«
Wolfgang unterdrückte sein Gähnen nicht mehr.»Hättest du nur an diesem Tag nicht zum Zahnarzt gemußt!«sagte er inbrünstig.»Uns wäre eine Menge erspart geblieben!«
«Ihr Mann hat sie ständig betrogen. Robert ist überzeugt, daß er sie damit zu ihrem Selbstmord getrieben hat.«
«Das ist doch Unsinn!«entgegnete Wolfgang scharf.
«Wie du mir erzählt hast, war sie eine immer noch junge, attraktive Frau!«
«Was hat denn jetzt das eine mit dem anderen zu tun?«
«Wenn ihr Mann sie wirklich betrogen hat, muß das für eine solche Frau doch kein Weltuntergang sein. Ich bitte dich! Achtunddreißig Jahre alt, gutaussehend. Sie hätte sich leicht neu orientieren können. Sie mußte nicht in einem Tränenmeer versinken!«
«Vielleicht hat sie ihn auf eine Art und Weise geliebt, die es ihr nicht möglich machte, mit einem anderen Mann etwas anzufangen. Das kann doch sein.«
«Sentimentaler Blödsinn! Wenn man dreißig Jahre oder länger mit einem Menschen zusammen war, hat man es womöglich sehr schwer, sich einen anderen vorzustellen. Aber so lange können die beiden gar nicht verheiratet gewesen sein. Und, wie gesagt, für Torschlußpanik war sie dann doch noch zu jung!«
Er war jetzt zornig und heftig, und Leona fragte sich, weshalb er sich so erregte. Bisher hatte er auf das Thema Eva gelangweilt oder genervt reagiert. Auf einmal schien er ernsthaft wütend.
Sie schwang die Beine aus dem Bett, angelte sich ihre Hausschuhe.
«Ich gehe ins Wohnzimmer«, sagte sie,»ich will ein bißchen fernsehen. Ich glaube, ich kann jetzt einfach nicht mehr einschlafen.«
Er machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten.
Wie schön sie eine Leiche herrichten können, dachte Lisa. Sie betrachtete das ruhige, sanfte Gesicht ihrer Schwester. Oft schon hatte sie die Leute den Frieden in den Gesichtern von Toten beschreiben hören, aber sie hatte das für ein Klischee gehalten, für eine Behauptung, der, da sie nun einmal aufgestellt war, jeder bereitwillig folgte. Der Friede in den Gesichtern der Toten und der damit verbundene Gedanke an ihre Erlösung von allem irdischen Leid stellte einen wertvollen Trost dar, den einzigen Trost oftmals, den man finden konnte. An irgend etwas mußte man sich festhalten.
Aber Anna sah wirklich friedlich aus, fand Lisa. Als schliefe sie und habe dabei einen schönen Traum. Man hatte Dreck und Blut von ihrem Gesicht gewaschen, Gras und Äste aus ihren Haaren gekämmt. Wer sie so sah, hätte nicht vermutet, daß sie eines gewaltsamen Todes gestorben war.
Ihr Körper, dachte Lisa, sieht vermutlich weniger schön aus. Die vielen Stichwunden ließen sich wohl kaum verbergen. Der Mörder hatte sie wie ein Wahnsinniger mit dem Messer traktiert.
Sie hatte es gesehen. Sie hatte ihre Schwester identifizieren müssen. Sie hörte ihren Vater hinter sich leise schluchzen und wandte sich zu ihm um. Während der letzten zwei Wochen schien er um wenigstens zehn Jahre gealtert. In seinem zerfurchten Gesicht standen Ratlosigkeit und Entsetzen.
Sanft berührte sie seinen Arm.»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht mitkommen, Vater. Die Beerdigung wird schwer genug werden für dich. Warum mußtest du sie dir noch einmal ansehen?«
«Weil ich Abschied nehmen wollte«, murmelte Johann.
Ihm war deutlich anzusehen, daß er sich unwohl fühlte in dem dunklen Anzug, der an manchen Stellen schon grünlich schimmerte vor Alter. Sein Hochzeitsanzug, fast dreißig Jahre alt. Er hing wie ein Sack an ihm. Lisa dachte daran, wie stattlich ihr Vater noch bis vor zwei Jahren gewesen war. Ehe der Krebs zugeschlagen hatte. Zuerst in der Lunge; sie hatten ihm daraufhin einen Lungenflügel entfernt. Aber dann waren Metastasen im Darm und im Magen aufgetreten. Neuerdings sprach er oft von Schmerzen in den Knochen, konnte sich an vielen Tagen kaum bewegen. Lisa war mit seiner Pflege vollauf beschäftigt. Da sie es an seinen schlimmen Tagen nicht schaffte, ihn aus dem Bett zu heben und ins Bad zu bringen oder ein paar Schritte im Garten mit ihm spazierenzugehen, hatte sie bei einem privaten Pflegedienst im Nachbarort angerufen und um Hilfe gebeten. Seitdem kam Benno jeden zweiten Tag vorbei, ein netter, nicht mehr ganz junger Mann, der zwar kein ausgebildeter Pfleger war und weder Medikamente verabreichen noch Spritzen geben durfte, aber über die nötige Kraft verfügte, den Schwerkranken zu stützen oder sogar zu tragen. Seine Hilfe stellte eine große Erleichterung für Lisa dar.
Benno war dagewesen an jenem warmen Tag vor zwei Wochen, als die Polizei geklingelt hatte. Es war später Nachmittag gewesen, Lisa hatte gerade zum Einkaufen gehen wollen und hatte Benno gebeten, so lange bei ihrem Vater zu bleiben. Es ging ihm schlecht, man konnte ihn nicht allein lassen.
Benno hatte die Tür geöffnet, war dann heraufgekommen, wo Lisa im Bad stand und sich die Lippen nachzog.»Polizei«, hatte er gewispert,»zwei Beamte. Sie wollen zu Ihrem Vater!«
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