«Leona!«flehte Robert.
Mühsam sah sie wieder zu ihm hin. Sein Gesicht, von wächserner Blässe, zeigte keine Schramme, keinen Kratzer. Es war so schön wie immer und völlig unversehrt. In seinen klaren Augen aber hatte sich bereits die Gewißheit des Sterbens eingenistet.
«Leona, du bist wach?«
«Ja«, wisperte sie.
«Bist… du verletzt?«
«Meine Beine… irgend etwas ist mit meinen Beinen…«
«Kannst du aussteigen?«
«Ich weiß nicht… was ist mit dir?«
«Ich sterbe«, sagte er.
«Ich werde sehen, daß ich aussteigen kann. Vielleicht kommt jemand vorbei. Wir brauchen einen Arzt. Einen Notarztwagen.«
«Keinen Arzt, Leona. Dafür ist es zu spät. Ich möchte nur… hilf mir hier raus. Hol mich aus diesem Auto. Ich… habe solche Schmerzen. Ich will nicht so sterben… bitte… hol mich raus…«
Es bedurfte einer sehr bewußten geistigen Anstrengung, ihren Beinen den Befehl zu geben, sich zu bewegen. Für gewöhnlich geschahen diese Dinge automatisch. Jetzt schien sich der Weg über die Nervenbahnen von ihrem Gehirn bis zu den ausführenden Gelenken vervielfacht zu haben. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie ihre Beine hinausgehoben hatte. Dann schob sie langsam ihren Körper durch die zerbeulte Tür hinterher.
Sie wußte, daß es warm draußen war, heiß sogar, aber sie fror dennoch heftig. Ihre Fingerspitzen fühlten sich taub an, bitzelten nur leicht. Sie stützte sich auf dem vergleichsweise unversehrten Kofferraum des Wagens ab, als sie vorsichtig um den Blechhaufen herumging. Übelkeit und Frieren wurden stärker.
Sie hielt Ausschau nach einem anderen Fahrzeug oder nach irgendeinem Menschen, einem Bauern vielleicht oder einem Spaziergänger, aber weit und breit blieb alles still und leer. Bienen summten träge durch den heißen Nachmittag. Nicht einmal eine Kirchturmspitze in der Ferne verriet die Nähe eines Dorfes. Die Landstraße verlor sich als gewundenes graues Band irgendwo am Horizont, wo die Wiesen an den Himmel grenzten.
Blühender Klee zu ihren Füßen. Löwenzahn. Aufgewühlte Erde dort, wo sich die Reifen ihren Weg gebahnt hatten. Sie könnte versuchen, die Straße entlangzulaufen…
Sie hörte wieder seine flehende Stimme.»Leona. Bitte… die
Schmerzen…«
Sie fluchte leise, tappte ganz um das Auto herum. Die Fahrertür war stark verschoben, ließ sich erst beim dritten Versuch öffnen. Das Bild, das sich ihr von dieser Seite bot, war das gleiche wie vorher. Robert hatte den Kopf herumgedreht, sah sie an.
«Bitte…«
Sie konnte die Worte mehr an seinen Lippen ablesen, als daß sie sie hörte.
«Die Schmerzen…«
Sie wußte nicht, ob ihm tatsächlich das Lenkrad im Bauch steckte oder ob es die völlig verkrümmte, zusammengeschobene Haltung war, was ihn fast rasend werden ließ vor Schmerzen, aber sie begriff, daß es der letzte und einzige Wunsch seines Lebens noch war, sich auf der Erde ausstrecken zu können und dort zu sterben. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Tieres, das qualvoll in einer Falle verendet.
Sie neigte sich über ihn, versuchte, ihre Hände unter seine Arme zu schieben. Er stöhnte entsetzlich, wurde noch fahler. Sie merkte, daß er versuchte, sich zu beherrschen, damit sie auf keinen Fall nachließ in ihrem Bemühen, ihm herauszuhelfen.
«Wo ist Felix?«fragte sie leise.
«Bitte…«, winselte er.
Sie ließ ihn los.»Wo ist Felix?«wiederholte sie mit schneidender Stimme.
Er sah sie an, ungläubig, erschüttert.
«Leona…«
Sehr leise sagte sie:»Ich lasse dich hier verrecken. Ich schwör’s dir. Hier ist weit und breit niemand, der dir helfen könnte. Wo ist Felix?«
«Hol… mich raus! Bitte!«
Die Schmerzen raubten ihm fast die Sinne. Sie konnte es sehen.
Sie trat einen Schritt zurück. Er bemühte sich, die Hand nach ihr auszustrecken, vermochte aber nicht viel mehr, als seine Finger zu krümmen.
«Das… würdest… du… nicht… tun…«
«Verlaß dich drauf. Ich tu’ es.«
Sie machte einen weiteren Schritt von ihm weg. Er weinte jetzt wie ein Kind.
«Leona… bitte… bitte…«
«Wo ist Felix?«
Er schluchzte, als er ihr den Ort beschrieb, an dem er ihn versteckt hatte. Sie zweifelte nicht daran, daß er die Wahrheit sagte. Sie packte ihn an den Schultern und zog ihn millimeterweise aus dem Wagen. Es kostete sie mehr Kraft, als sie je geglaubt hatte aufbringen zu können.
Irgendwann hörte sie, wie ein Auto hielt. Sie hörte Stimmen.
«Mein Gott, was ist denn passiert? Hören Sie, Sie bluten ja schrecklich! Wir brauchen sofort einen Arzt und die Polizei… Sie sollten den Mann besser nicht bewegen… Warten Sie, bis der Arzt…«
Aber da hatte sie es schon geschafft und streckte Robert in dem weichen Klee am Straßenrand aus. Nicht nur im Gesicht, auch am ganzen Körper sah er völlig unversehrt aus. Sie strich ihm die dichten, dunklen Haare aus der Stirn.
Im selben Moment, da er sie anlächelte, starb er.
Sie saß noch neben ihm auf der Erde und hielt seine Hand, als die Polizei kam und ein Krankenwagen. Ein Sanitäter löste ihre Finger aus denen Roberts. Sie wurde auf eine Bahre gelegt, und endlich breitete jemand eine Decke über sie, ein Mensch, der, wie sie dankbar dachte, gemerkt haben mußte, wie entsetzlich sie fror.
«Schwerer Schock«, hörte sie jemanden sagen.
Sie schloß die Augen.
Auf den ersten Blick war es Wolfgang vorgekommen, als strahle Leona Verlorenheit und Verlassenheit aus, wie sie da am Fuß der Treppe stand zwischen all den Koffern. Aber dann, als er die letzte Stufe heruntergekommen war, merkte er, daß sie voller Zuversicht und Vorfreude war. Alle Hoffnung, sie werde sich alles noch einmal überlegen, fiel in sich zusammen.
Sie kramte in ihrer Handtasche herum, fischte ihren Autoschlüssel heraus.
«So«, sagte sie,»ich muß los. Paul wartet sicher schon.«
«Hätte ihn nicht irgend jemand anderer von der Familie im Krankenhaus abholen können? Olivia zum Beispiel. Dann hätten wir wenigstens diese letzten zwei Tage noch für uns.«
«Ich will doch selbst noch mal nach Lauberg. Ich sehe sie alle jetzt für mindestens ein Jahr nicht mehr. Und da ist es doch nur sinnvoll, daß ich Paul gleich mitnehme.«
Mit einer resignierten Handbewegung wies er auf die zahlreichen Gepäckstücke ringsum.
«Na ja, jedenfalls zeigst du mir recht deutlich, wie eilig du es hast, von mir wegzukommen. Du hättest ja auch nach deiner Rückkehr aus Lauberg packen können.«
«Das wäre aber eine unheimliche Hetzerei geworden. Es tut mir leid, daß du jetzt das ganze Zeug hier herumstehen hast, aber übermorgen verschwindet alles.«
Er lächelte traurig.»Übermorgen verschwindest vor allem du!«
Sie nickte.»Ja. Ich habe dir ja erklärt…«
«Jaja. Ich weiß.«
Es hatte ihn wie ein Schlag getroffen, als sie ihm verkündet hatte, sie werde nach England gehen. Ihre Stelle kündigen. Für mindestens ein Jahr in London leben. Vielleicht auch für länger.
«William — du weißt, der Literaturagent, mit dem ich befreundet bin — hat mir einen Job angeboten. Das ist eine riesige Chance! Ich muß das machen!«
«Aber du kannst doch nicht deine wirklich gute Stelle hier…«
«Natürlich kann ich! Meinst du, ich will für alle Zeit am selben Schreibtisch versauern?«
Er hatte vor ihr gestanden, mit hängenden Armen und mit seiner ganzen Bereitschaft zu einem Neuanfang, und war sich wie ein Trottel vorgekommen.
«Und… was wird aus uns?«hatte er schließlich gefragt.
Sie hatte nicht einmal versucht, ihm die bittere Wahrheit ein wenig zu versüßen.
«Ich weiß nicht. Vorläufig jedenfalls — nichts!«
«Aha. Und du meinst, ich warte hier geduldig, bis du wiederkommst und ob du überhaupt wiederkommst?«
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