»Armer heiliger Sepp …«
»Welcher heilige Sepp?« fragte ich nach.
Crumley beugte sich auf der Schwelle nach vorne.
Constance war schon tief unten und antwortete schlaftrunken: »… Priester. Armer Kerl. Überfallen. Die Filmleute stürmen herein. Blut in der Sakristei. Leichen, mein Gott, überall Leichen. Armer Sepp …«
»St. Sebastian? Ist das der arme Sepp?«
»Ja, ja. Der Ärmste. Die Armen alle«, murmelte Constance. »Armer Arby, du armes, blödes Genie. Armer Sloane. Arme Frau. Emily Sloane. Was sagte sie noch in dieser Nacht? Wir werden ewig leben. Junge, was für eine Überraschung, im Nichts aufzuwachen. Arme Emily. Armes Hollyhock-Haus. Arme Constance.«
»Armes wie war das noch?«
»Hol …«, Constances Stimme rutschte weg, »… ly … ock … Haus …«
»Nein«, sagte Crumley und kam ganz ins Zimmer herein. »Kein Film. Hier.«
Er faßte unter den Nachttisch, zog ein Telefonbuch hervor und blätterte darin herum. Sein Finger lief die Spalten der Seiten herunter, und dann las er laut vor: »Hollyhock-Haus, Sanatorium. Das ist einen halben Block von St. Sebastian, einen halben Block nach Norden, stimmt’s?«
Crumley beugte sich ganz nah an ihr Ohr hinunter.
»Hollyhock-Haus«, sagte er. »Wer ist dort?«
Constance stöhnte leise, bedeckte ihre Augen und drehte sich weg. Gegen die Wand sprach sie dann noch einige letzte Worte über jene lang zurückliegende Nacht.
»… ewig leben … die hatte keinen Schimmer … alles arme Schlucker … armer Arby … armer Priester … armer Sepp …«
Crumley richtete sich unter einem Murmeln auf: »Genau. Verdammt. Klar doch. Hollyhock-Haus. Nur ein Steinwurf vom …«
»Von St. Sebastian entfernt«, ergänzte ich. »Wieso kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß du mich dort gleich hinbringst?«
59
»Du siehst aus wie der aufgewärmte Tod«, sagte Crumley beim Frühstück zu mir. »Und du«, er zeigte mit seinem gebutterten Toast auf Constance, »du siehst aus wie die gnadenlose Gerechtigkeit.«
»Und wie sehe ich aus?« wollte Henry wissen.
»Dich kann ich nicht sehen.«
»Das paßt«, meinte der Blinde.
»Runter mit den Kleidern«, sagte Constance mit traniger Stimme, wie jemand, der gerade an der Schiefertafel lesen lernt. »Zeit zum Schwimmen. Bei mir!«
Wir fuhren zu Constances Wohnung.
Fritz rief an.
»Hast du die Mitte für meinen Film«, brüllte er, »oder war’s der Anfang? Jetzt brauchen wir auch noch eine Neufassung der Bergpredigt!«
»Ist da wirklich eine Neufassung nötig?« Ich hätte beinahe zurückgeschrien.
»Hast du es dir vor kurzem einmal angesehen?« Ich hörte förmlich, wie Fritz sich die Haare raufte. »Mach es einfach! Anschließend mußt du dir einen Begleittext einfallen lassen, der die zehntausend anderen Fallstricke, Sprünge, Beulen und Risse unseres Epos überdeckt. Hast du vor kurzem die Bibel einmal ganz gelesen?«
»Kann ich nicht behaupten.«
Fritz riß sich weitere Haarbüschel aus. »Dann quer!«
»Quer?!«
»Querlesen, Seiten auslassen. Wir treffen uns um fünf Uhr im Studio; du hast eine Predigt dabei, die mich aus den Socken haut, und einen Kommentartext, bei dem sich der gute Orson Welles auf die Schuhe kacken würde! Dein Unterseebootkapitän befiehlt: Tauchen!«
Er tauchte unter und blieb verschwunden.
»Kleider aus«, sagte Constance noch immer im Halbschlaf. »Alle rein!«
Wir schwammen. Ich folgte Constance so weit in die Brandung, wie ich mich traute, dann hießen sie die Seehunde willkommen und schwammen mit ihr davon.
»Menschenskind«, sagte Henry, der bis zur Hüfte im Wasser saß. »Das erste Bad, das ich mir seit Jahren genehmige.«
Vor zwei Uhr nachmittags leerten wir fünf Flaschen Champagner und fühlten uns plötzlich beinahe glücklich.
Dann setzte ich mich irgendwann hin und schrieb meine Bergpredigt und las sie zum Tosen der Wellen laut vor.
Als ich fertig war, sagte Constance leise: »Wo kann ich mich zur Sonntagsschule anmelden?«
»Jesus wäre stolz darauf gewesen«, sagte Henry.
»Ich taufe dich auf den Namen Genius.« Crumley goß mir Champagner ins Ohr.
»Ach was«, sagte ich bescheiden.
Ich ging wieder ins Haus und brachte Josef und Maria nach Bethlehem, stellte die weisen Männer in Positur, setzte das Baby in die Wiege aus Stroh, und die Tiere schauten mit ungläubigen Augen zu; mitten in der Nacht kamen Kamelkarawanen, eigenartige Sterne und wundersame Geburten. Ich hörte, wie Crumley hinter mir sagte: »Armer heiliger Sepp.«
Er wählte die Auskunft an.
»Hollywood?« fragte er. »St. Sebastians Kirche?«
60
Um halb vier ließ mich Crumley vor der Kirche St. Sebastian aussteigen.
Er betrachtete mein Gesicht und erriet meine Gedanken.
»Laß es sein!« raunzte er. »Du hast diesen besoffenen Ausdruck der Trapezkünstler. Was soviel heißt wie: du stolperst, aber ich falle die Treppe runter!«
»Crumley!«
»Herrgott noch mal, und dieser Wettlauf durch die Knochenhaufen und unter der Mauer hindurch? Denk doch an Roy, der nicht mehr auftaucht, an den blinden Henry, wie er mit seinem Stock auf die Luft einschlägt, um Gespenster zu verjagen, und denk an Constance, die heute abend wieder erschrecken könnte, und dann kommt sie und reißt mir meine Scheuklappen herunter. Es war meine Idee, dich hierherzubringen! Aber jetzt stehst du da wie ein hyperintelligenter Clown, der jeden Augenblick von der Klippe springt!«
»Armer heiliger Mann. Armer Sepp. Armer Priester«, entgegnete ich.
»Oh, nein, bloß das nicht!«
Und Crumley fuhr davon.
61
Ich spazierte durch eine Kirche, die in ihren Ausmaßen recht bescheiden war, von der Einrichtung her jedoch so reichhaltig ausstaffiert, daß sie vor lauter funkelnder Pracht zu brennen schien. Ich blieb vor einem Altar stehen, der an die fünf Millionen Dollar an Gold und Silber verschlungen haben mußte. Hätte man die Christusfigur an seiner Vorderseite eingeschmolzen, so hätte man damit sicherlich die halbe Münzanstalt der Vereinigten Staaten aufkaufen können. Während ich wie geblendet von dem Licht, das von dem Kreuz ausging, dastand, hörte ich plötzlich Pfarrer Kelly hinter mir.
»Sind Sie der Drehbuchautor, der mich wegen einem gewissen Problem angerufen hat?« rief er leise quer über die Bankreihen herüber.
Ich betrachtete noch immer den unglaublich strahlenden Altar. »Sie müssen eine Menge reiche Gläubige in Ihrer Gemeinde gehabt haben, Herr Pfarrer«, sagte ich.
Arbuthnot, dachte ich.
»Nein, das hier ist nur eine leere Kirche in einem leeren Zeitalter.« Pfarrer Kelly durchpflügte das Seitenschiff und streckte mir seine große Pranke entgegen. Er war groß, über einsneunzig, muskulös wie ein Athlet. »Wir sind in der glücklichen Situation, das eine oder andere Mitglied in unserer Gemeinde zu haben, dessen Gewissen nicht zur Ruhe kommen will. Sie drängen ihr Geld der Kirche förmlich auf.«
»Wenn Sie das sagen, Herr Pfarrer.«
»Wenn es nicht wahr wäre, würde Gott mich am Schlafittchen packen.« Er lachte. »Es ist schon hart, das Geld den leidenden Sündern einfach abzunehmen, aber immer noch besser, als wenn sie es auf der Rennbahn verjubeln. Hier bei mir haben sie eine größere Gewinnchance, denn ich treibe ihnen den Glauben höchstpersönlich ein. Wo die Psychiater nur emsig daherschwätzen, stoße ich einen höllischen Schrei aus, bei dem die Hälfte meiner Lämmchen vor Schreck die Hosen runterläßt und die andere Hälfte sie schleunigst wieder raufzieht. Aber kommen Sie doch. Mögen Sie Scotch? Ich überlege mir oft, ob Jesus, würde er heute leben, nicht Scotch servieren würde, und ob uns das etwas ausmachte. Das nennt man irische Logik. Kommen Sie.«
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