Ich war zugegen, zusammen mit Crumley und Constance und Henry und Fritz und Maggie. Roy stand sehr weit von unserer Gruppe entfernt.
»Was tun wir bloß hier?« murmelte ich.
»Wir wollen nur sichergehen, daß er diesmal endgültig begraben wird«, bemerkte Crumley.
»Wir wollen dem armen Schlitzohr vergeben«, sagte Constance leise.
»Wenn die Leute draußen wüßten, was hier heute vorgeht«, sagte ich. »Stellt euch die Menschenmassen vor, die gekommen wären, um bei seiner endgültigen Einsegnung dabeizusein. Abschied nehmen von Napoleon.«
»Er war kein Napoleon«, widersprach Constance.
»Wirklich nicht?«
Ich blickte über die Friedhofsmauer, wo die Städte der Welt darniederlagen; wo sollte Kong nun Doppeldecker aus der Luft greifen? Es gab keine staubdurchwehte, weiße Grabstätte für den grabflüchtigen Heiland und kein Kreuz, woran man einen Glauben oder eine Zukunft hängen konnte, und kein …
Nein, dachte ich, vielleicht nicht Napoleon, aber Barnum, Gandhi und Jesus. Herodes, Edison und Griffith. Mussolini, Dschingis Chan und Tom Mix. Bertrand Russell. Der Mann, der die Welt verändern wollte und Der Unsichtbare. Frankenstein, Tiny Tim und Drac –
Ich mußte etwas davon laut ausgesprochen haben.
»Ruhe«, sagte Crumley, sotto voce.
Und dann fiel die Tür zu Arbuthnots Gruft, in der sich Blumen und die Leiche des Monsters befanden, krachend ins Schloß.
74
Ich suchte Manny Leiber auf.
Er saß immer noch wie ein Dämon im Taschenformat auf der Kante seines Schreibtischs. Mein Blick wanderte von ihm zu dem geräumigen Sessel hinter ihm.
»Na schön«, sagte er, » Cäsar und Christus ist abgedreht. Maggie arbeitet am Schnitt für das verfluchte Ding.«
Er machte ganz den Eindruck, als wolle er mir die Hand schütteln, wisse aber nicht so recht, wie er das anstellen sollte. Also ging ich um ihn herum, suchte mir wie in alten Zeiten die Sofakissen zusammen, türmte sie aufeinander und setzte mich oben drauf.
Manny Leiber mußte lachen. »Geben Sie denn niemals auf?«
»Wenn ich das täte, würden Sie mich bei lebendigem Leib auffressen.«
Ich schaute auf die Wand hinter seinem Rücken. »Ist der Durchgang versperrt?«
Manny rutschte von der Schreibtischkante, ging zum Spiegel hinüber und hob ihn von den Haken. Dahinter, wo sich einst die Tür befunden hatte, war jetzt frischer Putz und ein neuer Anstrich zu sehen.
»Kaum zu glauben, daß da jahrelang jeden Tag ein Monster durchgekommen ist«, sagte ich.
»Das war kein Monster«, sagte Manny. »Er hat dieses Studio geführt. Ohne ihn wäre es schon längst den Bach runtergegangen. Erst am Schluß ist er durchgedreht. Den Rest der Zeit war er Gott hinter dem Spiegel.«
»Konnte er sich nie daran gewöhnen, daß ihn die Leute anstarren?«
»Meinen Sie, Ihnen wäre es anders ergangen als ihm? Was ist so ungewöhnlich daran, daß er sich versteckt hielt, in der Nacht durch den Tunnel heraufkam und sich in den Stuhl dort setzte? Das ist nicht idiotischer oder ausgefallener als die Vorstellung, daß Filme von der Leinwand herunterkommen und die Welt beherrschen. Jede verdammte Stadt in Europa gibt sich mittlerweile verrückt amerikanisch, die Leute ziehen sich so an wie wir, sehen so aus wie wir, reden und tanzen wie wir. Mit Hilfe der Filme haben wir die Welt erobert, wir sind nur zu blöd, um es zu bemerken. Wenn dem so ist, dann frage ich mich, was an dem naturgegebenen Talent eines Mannes, der hinter der Wandvertäfelung sitzt, so ungewöhnlich sein soll!?«
Ich half ihm, den Spiegel wieder über das neuverputzte Mauerstück zu hängen.
»Sobald etwas Gras über die ganze Angelegenheit gewachsen ist«, sagte Manny, »rufen wir Sie und Roy wieder zurück. Dann bauen wir den Mars auf.«
»Aber ohne Monster.«
Manny zögerte. »Darüber reden wir später.«
»Mmhmm«, sagte ich.
Ich blickte auf den Stuhl. »Wechseln Sie den aus?«
Manny überlegte. »Ich werde mit meinem Hintern hineinwachsen. Das habe ich lange aufgeschoben. Ich glaube, die Zeit dafür ist jetzt gekommen.«
»Ein Hinterteil, das widerstandsfähig genug ist, um den Entscheidungsgewaltigen in New York Paroli zu bieten?«
»Wenn ich mein Gehirn in die Hosen stopfe, dann bestimmt. Jetzt, wo er weg ist, habe ich einiges vor. Möchten Sie ihn mal ausprobieren?«
Ich betrachtete mir den Sessel eine Weile.
»Nö, lieber nicht.«
»Haben Sie Angst davor, daß Sie nicht mehr davon loskommen, wenn Sie erst mal drinsitzen? Raus mit Ihnen. Kommen Sie in vier Wochen wieder.«
»Wenn Sie wieder einen anderen Schluß für Jesus und Pilatus oder Christus und Konstantin brauchen, oder für …«
Bevor er sich entziehen konnte, schüttelte ich seine Hand:
»Viel Glück.«
»Ich glaube, er meint es auch noch im Ernst«, sagte Manny zur Zimmerdecke empor. »Teufel auch.«
Er drehte sich um und setzte sich in den Sessel.
»Na, wie fühlt man sich so?« fragte ich.
»Nicht schlecht.« Er schloß die Augen und spürte, wie sein Körper ganz und gar in den Sessel sank. »Man könnte sich daran gewöhnen.«
An der Tür schaute ich mich noch einmal um: er sah winzig aus in dem riesigen Sessel.
»Hassen Sie mich immer noch?« fragte er mit geschlossenen Augen.
»Klar«, sagte ich. »Sie mich auch?«
»Aber sicher«, sagte er.
Ich ging hinaus und machte die Tür hinter mir zu.
75
Ich ließ den Wohnblock hinter mir und überquerte die Straße. Henry trippelte neben mir her, geleitet vom Geräusch meiner Schritte und seinem klappernden Koffer in meiner Hand.
»Haben wir auch alles, Henry?« vergewisserte ich mich.
»Mein ganzes Leben in einem Koffer? Klar.«
Am gegenüberliegenden Straßenrand angekommen, drehten wir uns um. Jemand ließ irgendwo eine Ladung hochgehen. Die Hälfte des Blocks sackte, wie von einer Salve getroffen, in sich zusammen.
»Hört sich an wie damals, als der Pier von Venice abgebrochen wurde«, sagte Henry.
»Genau.«
»Oder an dem Tag, als die Achterbahn entzweibrach.«
»Genau.«
»Oder an dem Tag, als sie die Schienen der großen, roten Straßenbahn herausgerissen haben.«
»Genau.«
Der Rest des Gebäudes stürzte ein.
»Komm schon, Henry«, sagte ich. »Laß uns nach Hause gehen.«
»Nach Hause«, sagte der blinde Henry und nickte freudig. »Ein Zuhause hatte ich nie. Hört sich nett an.«
76
Ich hatte Crumley und Roy und Fritz und Maggie und Constance zu einem letzten Abschiedstrunk eingeladen, bevor Henrys Verwandte kamen und ihn nach New Orleans mitnahmen.
Die Musik dröhnte, das Bier floß in Strömen, Henry gab zum vierzehntenmal die Entdeckung des leeren Grabes zum besten, und Constance knabberte halb betrunken und halb entkleidet an meinem Ohr, als die Tür meines bescheidenen Hauses aufgerissen wurde.
Eine Stimme schrie: »Ich habe einen früheren Flug erwischt! Der Verkehr war furchtbar! Ach dort bist du! Ja, und Sie kenne ich, und Sie und Sie .«
Peg stand in der Tür.
»Aber wer«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf Constance, »ist diese halbnackte Frau?«