Ich schwang mich balancierend auf den Rand des steinernen Sarges und schaute mir die glatten, regelmäßigen Formen auf dem Boden genauer an.
»Paß auf!« rief Crumley.
»Nein, du !«
Ich sprang in den Sarkophag hinein.
Das leise Stöhnen eines gutgeschmierten Mechanismus ertönte. Der Raum erzitterte, als sich unter uns ein Gegengewicht in Bewegung setzte.
Ich sank mit dem Boden des Sarkophags langsam nach unten. Meine Füße verschmolzen mit der Dunkelheit. Die Beine folgten. Als die Bodenklappe zur Ruhe kam, stand ich schräg auf dem Sargboden.
»Stufen!« rief ich laut. »Eine Treppe!«
»Was?« Henry stocherte in die Tiefe. »Tatsächlich!«
Im horizontalen Zustand hatte der Boden des Sarkophags wie eine lange Reihe halbierter Pyramiden ausgesehen. Jetzt, schräg nach unten geklappt, ergaben sie perfekte Treppenstufen, die in eine tiefer gelegene Begräbnisstätte führten.
Ich machte einen entschlossenen Schritt nach unten. »Los, kommt schon!«
»Kommt schon?« Crumley zögerte. »Was zum Teufel ist dort unten?«
»Was zum Teufel ist dort draußen?« Ich zeigte in Richtung der verriegelten Außentür.
»Verflucht!« Crumley sprang auf und griff nach Henry. Henry schnellte hoch wie eine Katze.
Vorsichtig ging ich noch eine Stufe hinunter. Zitternd leuchtete ich mit der Taschenlampe voran. Henry und Crumley kamen fluchend und schnaufend hinterher.
An die Stufen der Sarkophagklappe schloß sich eine weitere Treppe an, die uns drei Meter tiefer in eine Art Katakombe führte. Nachdem Crumley als letzter die Treppen heruntergekommen war, hob sich der Sargboden mit einem leisen Pfeifen und klappte wieder zu. Ich betrachtete mir die nun geschlossene Decke und entdeckte ein Gegengewicht, das auf halber Höhe zum Stillstand gekommen war. Vom Boden der entschwundenen Treppe hing ein großer Eisenring herab. Man konnte also von unten mit Hilfe des eigenen Körpergewichts die Falltür herunterziehen.
Die ganze Aktion konnte in wenigen Sekunden bewerkstelligt werden.
»Mir gefällt es hier ganz und gar nicht!« sagte Henry.
»Woher willst du das wissen?« stichelte Crumley.
Henry entgegnete: »Mir gefällt es hier einfach nicht. Hört doch nur!«
Oben rüttelte der Wind, oder etwas anderes, an der äußeren Tür zur Gruft.
Crumley schnappte sich die Taschenlampe und fuchtelte wie wild damit herum: »Jetzt gefällt es mir hier auch nicht mehr!«
Gut drei Meter von uns entfernt befand sich eine Tür in der steinernen Wand. Crumley versuchte es mit Drücken und Grunzen. Sie ging auf. Mit Henry zwischen uns hasteten wir hindurch. Die Tür rumste hinter uns wieder zu. Wir rannten weiter.
Weg von dem Monster, dachte ich, oder direkt in seine Arme?
»Nicht hinschauen!« rief Crumley.
»Wie meinst du das?« Henry ließ seinen Stock durch die Luft sausen, trampelte mit seinen Schuhen auf die Steinfliesen ein. Er wurde zwischen uns nach vorne geschubst und wieder abgebremst. Crumley, der vorneweg rannte, schnaufte: »Einfach nicht hinschauen, das ist alles!«
Doch ich hatte schon im Laufen hingesehen, nachdem ich mehrere Male gegen die Seitenwände gestoßen war. Wir bahnten uns unseren Weg durch ein mit Knochenhaufen und Schädelpyramiden, zerbrochenen Särgen und zerfledderten Trauerkränzen übersätes Terrain; ein Schlachtfeld des Todes, mit zerbrochenen Weihrauchgefäßen, Fragmenten von Statuen und verrotteten Ikonen, als hätte eine lange Parade des Verderbens inmitten der Feierlichkeiten ihre gesamte Ausstattung fallenlassen, um zu fliehen, ebenso wie wir flohen, hinter einem Lichtstrahl herhetzten, der von moosgrünen Wänden abprallte und in quadratische Löcher stocherte, aus denen das Fleisch verschwunden war und in denen nur noch blanke Zähne grinsten.
Nicht hinschauen? dachte ich. Nein: nicht stehenbleiben! Trunken vor Angst und Schrecken hätte ich Henry beinahe überrannt. Er wedelte mit dem Stock, verwies mich auf meinen Platz und sprang so behende weiter wie ein Erdkobold.
Wir stolperten von einem Land ins andere, aus dem Knochenarchiv ins Archiv der Büchsen, aus Marmorgewölben hinaus und hinein in Betongewölbe, und plötzlich befanden wir uns im guten alten Schwarzweiß-Territorium. Mit den aufgestapelten Filmbüchsen blitzten Filmtitel und Namen vorbei.
»Wo sind wir denn jetzt?« keuchte Crumley.
»Rattigan!« hörte ich mich schnaufen. »Botwin! Mein Gott! Wir sind bei – Maximus Films! Über, unter oder durch die Mauer!«
Und tatsächlich befanden wir uns in Botwins Filmkeller und in Rattigans Unterwelt, in schlecht belichteten Fotolandschaften, die sie 1920, ’22 und ’25 durchreist hatten. Wir waren nicht mehr in der Knochenstätte, sondern in den alten Filmverliesen, die Constance erwähnt hatte, als wir uns über das Studio unterhielten. Ich blickte mich um. Die echten Körper hatte die Dunkelheit verschluckt, doch die Filmgespenster nahmen Gestalt an, als Titel an uns vorüberrauschten: The Squaw Man, Das Geheimnis des Dr. Fu Manchu, Der schwarze Pirat. Nicht nur Filme aus der Produktion von Maximus, auch von anderen Studios, geborgt oder gestohlen.
Ich war innerlich zerrissen. Eine Hälfte entfloh der Dunkelheit, die hinter mir lag. Die andere Hälfte wollte stehenbleiben, anfassen, diese längst vergangenen Erscheinungen in Augenschein nehmen, die mich in der Kindheit heimgesucht und sich in niemals endenden Sonntagvormittagsvorstellungen meinem Gedächtnis eingeprägt hatten.
Nein! schrie ich auf, doch ich schrie nicht wirklich. Geht nicht fort! Chaney! Fairbanks! Der Mann mit der verfluchten eisernen Maske! Nemo unter Wasser! D’Artagnan! Wartet auf mich! Ich komme zurück. Das heißt, falls ich dann noch lebe! Bald!
Eine Mischung aus Furcht und Enttäuschung, aus großer Liebe und großer Angst kam in mir hoch.
Nicht auf diese Schätze schauen, dachte ich. Denk an die schwarze Dunkelheit. Lauf.
Und bleib um Gottes willen nicht stehen!
Wie ein dreifacher Paniklauf holten uns unsere Echos ein. Die letzten dreißig Meter oder so legten wir schreiend als ein einziger Klumpen Furcht zurück; Crumley zappelte wie ein verrückter Affe mit der Taschenlampe, der blinde Henry und ich prallten zusammen mit ihm gegen die letzte Tür.
»O Gott, wenn die zu ist!«
Wir berührten sie.
Ich erinnerte mich an die alten Filme und erstarrte. Die Tür bricht auf: eine riesige Flutwelle überschwemmt New York, ein salziger Sog zieht dich in tiefe Schlünde hinab. Die Tür bricht auf, und das Höllenfeuer läßt dich zu mumifizierten Klümpchen zusammenschnurren. Die Tür bricht auf, und sämtliche Monster aller Zeiten greifen mit ihren nuklearen Klauen nach dir und schleudern dich in einen Abgrund ohne Boden. Du fällst und fällst und fällst, endlos, schreiend.
Mein Schweiß bedeckte den Türgriff. Hinter der Türfüllung wartete Guanajuato, dieser lange Tunnel in Mexiko, durch den ich damals wie bei einem Spießrutenlauf des Schreckens hindurchgerannt war, wartete mitsamt seinen 110 Männern, Frauen und Kindern, tabakgetrocknete Mumien, die man aus ihren Gräbern gezerrt hatte, damit sie dort in Reih und Glied auf die Touristen und das jüngste Gericht warteten.
Guanajuato, hier?! dachte ich. Unmöglich!
Ich drückte. Die Tür öffnete sich lautlos in perfekt geölten Angeln.
Einen Augenblick blieben wir erstaunt stehen.
Dann taumelten wir keuchend hindurch und knallten sie hinter uns zu.
Wir drehten uns um.
Ganz in der Nähe stand ein großer Sessel.
Und ein leerer Schreibtisch.
Mit einem weißen Telefon mitten auf seiner Schreibplatte.
»Wo sind wir?« wunderte sich Crumley.
»Schnauf nicht so, verrat es uns«, bat Henry mich.
Crumleys Lampenstrahl fingerte durch das Zimmer.
»Heilige Mutter Gottes, Cäsar und Jesus Christus«, hauchte ich.
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