»Wie mache ich mich?« flüsterte er.
Ich stand mit Henry zwischen all den Marmorsteinen mit den eingemeißelten Namen und Daten, und dazwischen wuchs unschuldig das Gras.
Henry schnupperte.
»Ich rieche einen Mordssteinbrocken. Hier. Ist das Braille oder was?«
Er wechselte den Stock in die linke Hand und fuhr zitternd mit der rechten über den in Stein gehauenen Namen auf dem Türsturz des griechischen Grabs.
Seine Finger rutschten über das »A« und blieben auf dem letzten »T« haften.
»Ich kenne diesen Namen.« Henry ließ eine Rolodex hinter seinen weißen Billardkugelaugen abspulen. »Sollte das etwa der lange verstorbene Eigentümer des Filmstudios gleich hinter der Mauer sein?«
»Richtig.«
»Dieser lärmende Mann, der in allen Vorstandszimmern saß und niemanden neben sich duldete? Der sich eigenhändig sein Fläschchen zubereitete und die Windeln wechselte, mit zweieinhalb den Sandkasten aufkaufte, mit drei die Kindergärtnerin feuerte, im Alter von sieben Jahren zehn Jungs zur Krankenstation schickte, mit acht Mädchen jagte, sie mit neun erwischte, mit zehn Jahren einen Parkplatz und an seinem zwölften Geburtstag das ganze Studio besaß, nachdem sein Papa gestorben war und ihm London, Rom und Bombay hinterließ? Ist das derjenige?«
»Henry«, seufzte ich, »du bist wunderbar.«
»Damit läßt sich nicht so einfach leben«, gab er bescheiden zu. »Nun denn.«
Noch einmal berührte er den Namen und das Datum darunter.
»31. Oktober 1934. Halloween! Schon seit zwanzig Jahren tot. Ich frage mich, wie das wohl ist, wenn man schon so lange tot ist. Los, warum fragen wir nicht einfach? Hat jemand daran gedacht, Werkzeug mitzubringen?«
»Ein Stemmeisen, aus dem Auto«, sagte Crumley.
»Gut …« Henry streckte die Hand aus. »Aber was zum Henker …« Seine Finger hatten die Tür zur Gruft berührt.
»Heiliger Moses!« entfuhr es ihm.
Die Tür glitt in geölten Scharnieren nach innen auf. Kein bißchen Rost! Kein Quietschen! Geölt!
»Jesusmariaundjosef! Tag der offenen Tür!« Henry machte einen Schritt zurück. »Wenn es euch nichts ausmacht … Ihr habt mehr Sinne beieinander, geht ihr zuerst.«
Ich berührte die Tür. Sie glitt weiter in die Dunkelheit hinein.
»Hier.«
Crumley drückte sich an mir vorbei, knipste seine Taschenlampe an und schritt voran in die Mitternacht.
Ich folgte ihm.
»Laßt mich nicht hier draußen stehen«, maulte Henry.
Crumley zeigte mit dem Finger auf die Tür: »Macht hinter euch zu, damit niemand das Licht der Taschenlampe sieht …«
Ich zögerte. Ich hatte schon zu viele Filme gesehen, in denen die Tür der Gruft zuknallte und die Leute in der Falle saßen, schreiend, bis in alle Ewigkeiten. Und wenn das Monster jetzt dort draußen war …?
»Meine Güte! So!« Crumley drückte die Tür zu und ließ gerade noch einen halben Zentimeter für frische Luft übrig. »Jetzt aber.« Er wandte sich um.
Der Raum war leer, bis auf einen großen, steinernen Sarkophag in seiner Mitte. Er hatte keinen Deckel. In dem Sarkophag hätte sich ein Sarg befinden müssen.
»Was zum Teufel …«, sagte Crumley.
Wir schauten hinein. Keine Spur von einem Sarg.
»Nichts verraten!« sagte Henry. »Ich setze mir rasch die dunkle Brille auf, damit kann ich besser riechen! So!«
Und während wir so dastanden und in den Sarg starrten, beugte Henry sich hinunter, nahm eine gute Nase voll, dachte hinter seinen dunklen Brillengläsern nach, atmete langsam aus, schüttelte den Kopf und schnüffelte noch einmal. Dann strahlte er.
»Blödsinn. Nichts drin, richtig?«
»Richtig.«
»J. C. Arbuthnot«, murmelte Crumley, »wo bist du?«
»Hier jedenfalls nicht«, sagte ich.
»Hier ist er auch niemals gewesen«, fügte Henry hinzu.
Wir schauten ihn verdutzt an. Er nickte voll Selbstzufriedenheit: »Niemand mit diesem Namen, oder mit irgendeinem anderen Namen, hat zu irgendeiner Zeit hier drin gelegen. Wenn das so wäre, hätte ich es gerochen, klar? Aber nicht einmal eine winzige Schuppe aus seinem Haar, ein Zehennagel, ein Härchen aus der Nase. Nicht die Spur von Hyazinthen oder Weihrauch. Dieses Grab, meine lieben Freunde, wurde niemals von einem Toten bewohnt, keine müde Stunde lang. Sollte ich mich irren, dürft ihr mir die Nase abschneiden!«
Eiswasser rann mir den Rücken hinunter und schoß unten aus meinen Schuhen heraus.
»Jesus«, nuschelte Crumley, »warum sollte jemand ein Grabmal aufstellen, niemanden hineinlegen, aber dann so tun als ob?«
»Vielleicht gab es nicht einmal einen Toten«, sagte Henry. »Was ist, wenn Arbuthnot nicht gestorben ist?«
»Nein, nein«, sagte ich. »Die Zeitungsberichte auf der ganzen Welt, die fünftausend Trauergäste. Ich war hier. Ich habe den Leichenwagen mit eigenen Augen gesehen.«
»Aber was haben sie dann mit der Leiche gemacht?« fragte Crumley. »Und warum?«
»Ich …«
Die Tür zur Gruft knallte zu!
Henry, Crumley und ich schrien vor Schreck. Ich hielt mich an Henry fest, und Crumley hielt sich an uns beiden fest. Die Taschenlampe fiel zu Boden. Fluchend bückten wir uns danach, stießen mit den Köpfen zusammen, schnappten nach Luft und warteten darauf, daß die Tür zugesperrt wurde. Wir tappten im Dunkeln umher, balgten uns um die Lampe und richteten dann endlich den Strahl auf die Tür, von einem unbändigen Verlangen nach Leben, Licht und frischer Nachtluft getrieben.
Wir stürzten alle drei gleichzeitig zur Tür.
Sie war tatsächlich verriegelt!
»Herrje, wie sollen wir jemals hier herauskommen?«
»Nein, nein«, wiederholte ich ein um das andere Mal.
»Halt die Klappe«, sagte Crumley, »laß mich nachdenken.«
»Denk schneller«, meinte Henry. »Wer auch immer die Tür zugemacht hat, holt sich jetzt Verstärkung.«
»Vielleicht war es nur der Friedhofswächter«, gab ich zu bedenken.
Nein, dachte ich: das Monster.
»Nein, gib mal die Lampe. Gut so. Meine Güte.« Crumley leuchtete die Tür ringsum ab. »Die Scharniere sind natürlich draußen, da kommen wir nicht ran.«
»Schön«, sagte Henry. »Ich vermute, an diesem Örtchen gibt es nur eine einzige Tür, oder?«
Crumley funzelte Henry voll ins Gesicht.
»Was habe ich denn gesagt?« wollte Henry wissen.
Crumley richtete das Licht woandershin und ging an ihm vorbei, auf die andere Seite des Sarkophags. Er leuchtete mit dem Strahl die ganze Decke ab, den Fußboden, sodann entlang der Fugen und um das kleine Fenster an der Rückseite, das so schmal war, daß höchstens eine Katze hätte hindurchschlüpfen können.
»Aus dem Fenster hinauszuschreien dürfte unklug sein.«
»Ich möchte dem nicht begegnen, der dadurch angelockt wird«, kommentierte Henry.
Crumley drehte sich mit der Taschenlampe im Kreis.
»Eine andere Tür«, sagte er mehr als einmal. »Es muß eine andere Tür geben!«
»Muß!« schrie ich.
Ich spürte das heiße Naß in meinen Augen und die schreckliche Trockenheit in meiner Kehle. Ich bildete mir ein, schwere Schritte zwischen den Grabsteinen zu hören, Schatten, die gekommen waren, um zuzuschlagen, zu vernichten, Gestalten, die mich Clarence nannten und mich töten wollten. Ich stellte mir vor, wie die Tür aufgerissen wurde und wir von einer Tonne Bücher, signierter Fotos und Autogrammkarten ertränkt wurden.
»Crumley!« Ich riß ihm die Lampe aus der Hand. »Gib mal her!«
An einer Stelle hatten wir noch nicht nachgeschaut. Ich schielte in den Sarkophag. Dann ging ich näher heran und es verschlug mir den Atem.
»Da! Diese Dinger! Keine Ahnung, was das ist, Vertiefungen, Mulden, Kerben, was auch immer. So etwas habe ich noch nie in einem Sarg gesehen. Und dort, seht nur, an der Fuge, kommt dort nicht Licht von unten durch? Mensch, los!«
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