»Okay«, rief der Taxifahrer, »bis hierher gehe ich, aber keinen Schritt weiter.«
»Feigling!« schrie ich.
»Stimmt!« sagte er. »Ich bleibe hier und warte!«
Ich war inzwischen schon halb bei der rückwärtigen Mauer angelangt. Der Regen fiel in dünnen Schleiern, die mir über das Gesicht strichen und die Verwünschungen in meiner Kehle erstickten.
Die Scheinwerfer des Taxis strahlten weit genug, um eine Leiter zu beleuchten, die gegen die hintere Mauer des Friedhofs gelehnt stand und hinüber auf das rückwärtige Gelände von Maximus Films führte.
Am Fuß der Leiter angekommen, starrte ich durch den kalten Nieselregen nach oben.
Am anderen Ende der Leiter schien ein Mann sich gerade über die Mauer hinweg auf die andere Seite hinüberhangeln zu wollen.
Doch er rührte sich nicht vom Fleck, als hätte ein Blitz seine blendend weiße Gestalt auf einen Film gebannt: Mit dem nach vorne gereckten Kopf eines Sprinters und seinem vornübergebeugten Rumpf sah er aus, als wolle er sich jeden Moment auf das Grundstück von Maximus Films stürzen.
Und doch blieb er starr, wie eine groteske Statue.
Ich hatte ihm gerade etwas zugerufen, als mir der Grund für sein Schweigen, für seine Bewegungslosigkeit klar wurde.
Der Mann dort oben starb gerade, oder er war bereits tot.
Er war hierhergekommen, von der Dunkelheit verfolgt, war die Leiter hinaufgeklettert, und beim Anblick von – ja von was nur? – mitten in der Bewegung erstarrt. Hatte ihn irgend etwas, das hinter ihm her kam, vor Schrecken erstarren lassen? Oder war es etwas dort drüben, auf der anderen Seite, etwas weitaus Grausigeres in der Dunkelheit des Studiogeländes?
Der Regen duschte die weißen Grabsteine ab.
Ich rüttelte vorsichtig an der Leiter.
»Großer Gott!« gellte ich.
Der alte Mann dort oben auf der Leiter verlor das Gleichgewicht.
Ich hechtete zur Seite.
Wie ein bleierner Zehn-Tonnen-Meteor landete er zwischen den Grabsteinen.
Ich kam wieder auf die Beine und beugte mich über ihn, konnte aber nichts hören, bei dem Donnern in meiner Brust und dem Rauschen des Regens auf den Steinen. Der Mann war im Nu durchnäßt.
Ich starrte in das Gesicht des Toten.
Er starrte zurück.
Warum schaust du mich so an? fragte er schweigend.
Weil ich dich kenne, dachte ich.
Sein Gesicht war wie weißer Stein.
James Charles Arbuthnot, ehemaliger Studiochef von Maximus Films, dachte ich.
Richtig, flüsterte er.
Aber, aber, schrie ich stumm vor mich hin, ich habe Sie zum letzten Mal gesehen, als ich dreizehn Jahre alt war und auf meinen Rollschuhen vor den Studios von Maximus Films stand, in der Woche, in der Sie ums Leben kamen, vor zwanzig Jahren. Tagelang wurden die Fotos zweier Autos veröffentlicht, die gegen einen Telefonmast geprallt waren, die furchtbar zugerichteten Wracks, das blutige Pflaster, die verrenkten Leichen, und dann noch zwei Tage lang Hunderte von Fotos der tausend Trauergäste bei Ihrer Beerdigung und die Millionen von Blumen. Sogar die Studiobosse aus New York vergossen echte Tränen, allenthalben nasse Augen, hinter Hunderten von Sonnenbrillen, als die Schauspieler herauskamen, ohne ihr strahlendes Lächeln. Man trauerte wirklich heftig um Sie. Dann abermals ein paar Aufnahmen der verunglückten Wagen auf dem Santa Monica Boulevard, es dauerte Wochen, bis die Zeitungen vergessen hatten, bis die Radiostationen aufhörten, Sie zu lobpreisen, und dem König allmählich vergaben, daß er wirklich von ihnen gegangen war.
Das kann nicht sein! Unmöglich, gellte ich fast los. Heute, in dieser Nacht, sind Sie wieder hier, oben auf der Friedhofsmauer? Wer hat Sie dort hingebracht? Sie können doch nicht ein zweites Mal ums Leben kommen, oder etwa doch?
Es blitzte. Ein Donner folgte, wie von einer riesigen zuschlagenden Tür. Der Regen fiel auf das Gesicht des Toten herab und füllte seine Augen mit Tränen. In seinem weit aufgerissenen Mund sammelte sich Wasser.
Ich wirbelte herum, schrie auf und rannte davon.
Als ich beim Taxi ankam, wußte ich, daß ich mein Herz dort hinten bei der Leiche zurückgelassen hatte.
Es kam hinter mir hergehetzt, traf mich wie ein Gewehrschuß ins Zwerchfell und schleuderte mich gegen das Taxi.
Der Fahrer starrte auf den Kiesweg hinter mir, auf den der Regen trommelte.
»Ist dort jemand?« kreischte ich.
»Nein!«
»Gott sei Dank. Bloß weg von hier!«
Da gab der Motor seinen Geist auf.
Wir stöhnten beide vor Verzweiflung.
Der Motor erbarmte sich unser und sprang wieder an.
Mit neunzig Sachen rückwärts zu fahren ist nicht ganz einfach.
Wir schafften es.
4
Die halbe Nacht blieb ich wach und betrachtete mein gewöhnliches Wohnzimmer mit der stinknormalen Einrichtung in einem kleinen, sicheren Bungalow in einer normalen Straße in einem ruhigen Viertel der Stadt. Obwohl ich drei Tassen heißen Kakao trank, wollte mir nicht richtig warm werden. Zitternd projizierte ich unablässig Hirngespinste an die Wände.
Niemand stirbt zweimal, dachte ich. Das konnte unmöglich James Charles Arbuthnot gewesen sein, der da auf der Leiter gestanden und sich in den Nachtwind gekrallt hatte. Tote Körper verwesen. Leichen lösen sich in nichts auf.
Ich erinnerte mich an einen Tag im Jahre 1934, als J. C. Arbuthnot gerade vor dem Studio aus seiner Limousine gestiegen war und ich ihm mit meinen Rollschuhen in die Arme stolperte. Er hatte gelacht, mich wieder auf die Beine gestellt, mir ein Autogramm gegeben, hatte mich in die Wange gezwickt und war hineingegangen.
Und jetzt, gütiger Gott, war dieser Mann, der schon lange das Zeitliche gesegnet hatte, mir vor einem kalten Regenhimmel erschienen und auf den Friedhofsrasen gestürzt.
Ich hörte Stimmen und sah Schlagzeilen vor mir:
J. C. ARBUTHNOT – TOT UND WIEDER
AUFERSTANDEN
»Nein!« schleuderte ich der weißen Wand entgegen, über die der Regen rieselte, und vor der der Mann herabfiel. »Er war es nicht. Das ist eine Lüge !«
Warte ab, bis es hell wird, sagte eine Stimme.
5
Auch die Morgendämmerung brachte keine Erleichterung.
Die Radio- und Fernsehnachrichten hatten keine Leichname zu vermelden.
Die Zeitungen waren voll mit Verkehrsunfällen und Rauschgiftrazzien. Nirgends ein J. C. Arbuthnot.
Ich schlenderte aus dem Haus, nach hinten in meine Garage, die mit Spielzeug, alten Wissenschaftsmagazinen und Erfinderzeitungen vollgestopft war. Kein Auto, nur mein gebraucht gekauftes Fahrrad.
Ich war schon den halben Weg zum Studio geradelt, als mir auffiel, daß ich mich an keine der Kreuzungen erinnern konnte, über die ich blindlings hinweggerauscht sein mußte. Starr vor Entsetzen fiel ich vom Rad; ich zitterte.
Ein feuerroter offener Roadster blieb mit qualmenden Reifen direkt neben mir stehen.
Der Mann hinter dem Lenker trug eine Mütze. Er setzte zurück und ließ den Motor aufröhren. Er starrte mich mit einem hellblauen Auge durch die Windschutzscheibe an; das andere war von einem Monokel verdeckt, das wie in sein Gesicht geschmiedet aussah und grelle Sonnenstrahlen entsandte.
»Hey, du gottverdammter Hundesohn«, schrie er mit einer Stimme, die eine Idee zu lange auf deutschen Vokalen verweilte.
Mir wäre beinahe das Fahrrad umgefallen. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich dieses Profil in alte Münzen geprägt gesehen. Dieser Mann war entweder ein wiederauferstandener Cäsar oder der Deutsche Hohepriester des Heiligen Römischen Reichs. Mein Herz schlug so heftig, daß es alle Luft aus meinen Lungen hämmerte.
»Na was?« schrie der Fahrer. »Raus mit der Sprache!«
»Freue mich, Sie kennenzulernen«, hörte ich mich sagen, »Sie gottverdammter Hundesohn. Sie sind doch Fritz Wong, oder irre ich mich? Geboren in Shanghai, Vater Chinese und Mutter Österreicherin, aufgewachsen in Hongkong, Bombay, London und einem Dutzend Städte in Deutschland. Erst Laufbursche, dann Cutter, dann Drehbuchautor, dann Kameramann bei der UFA, und dann Regisseur überall auf der Welt. Fritz Wong, der herausragende Regisseur, der den großen Stummfilm Die Cavalcanti-Beschwörung gedreht hat. Der Mann, der die Filmszene Hollywoods von 1925 bis 1927 beherrschte und dann wegen einer Szene in einem seiner Filme gefeuert wurde. Ein Film, in dem er selbst als preußischer General auftrat und Gerta Froehlichs Unterwäsche beschnüffelte.
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