«Das müssen wir doch jetzt auch.«
«Nein, aber richtig, wenn wir alt werden und berühmt werden müssen oder eine Rentenversicherung haben oder Familie gründen und so weiter. Meinst du, es kann trotzdem so bleiben, wie es ist?«
«Klar. Ich will weder alt werden noch berühmt noch Familie.«
Marc lachte.»So was hab ich früher oft gekocht«, sagte er, zeigte auf den Tannenzapfen.»Es wird nicht so bleiben«, sagte er plötzlich.
«Warum nicht?«
Stille. Ein Krähenruf. Ein im Geäst aufflatternder Vogel. Dann wieder Stille.
«Weil es schon dunkel ist und wir Hunger haben und was essen müssen und die Baumhaus-Küche leider seit Jahren geschlossen ist.«
Langsam stiegen sie im Finstern den Hügel hinab, sie gingen Arm in Arm, weil Marc den Weg kannte, die Äste und Steinstufen, die den Pfad kreuzten, bis ins Tal.
Dort saßen in der Mühle, beim knisternden Herdfeuer, Betty Morgenthal und Lisa Baldur am alten großen Eichentisch über ein Fotoalbum gebeugt, betrachteten noch mehr verwaschene Siebziger-Jahre-Fotos, noch mehr verlorene Zeit in gelbstichigen Farben, aber sie lachten über unmögliche Frisuren, sie lachten über Schlaghosen, über Zahnlücken hinter Schultüten, rote Miniröcke und Stirnbänder im Haar. Sie lachten über den Staatsanwalt, der nicht aussah wie ein Staatsanwalt, langhaarig, Zigarette im Mundwinkel, im Feinrippunterhemd am Flügel sitzend, dann unter einem Baum mit Gitarre, während er offenbar sang und aussah wie Marc. Wären da nicht diese gelbmilchigen Farben gewesen, es wäre Marcs Gesicht.
Trotz der Fotos und der verlorenen Zeit wurden es glückliche Tage in der Mühle. Baldur, Morgenthal, Holler strichen die Dachrinne, sie strichen die Außenwände eines Schuppens, strichen die Scheune, ernteten Äpfel, rechten Laub. Sie machten lange Wanderungen, kehrten abends mit müden Beinen zurück, tranken Wein auf der Veranda, Lisa kochte. Tagsüber meißelte und fräste sie an einer Hasenplastik für den Marktplatz einer oberfränkischen Gemeinde, spielende, putzige Häschen, die in Forchheim oder Lichtenfels oder Marktredwitz bis in alle Ewigkeit in der Wasserfontäne eines Brunnens sitzen sollten. Abends jedoch, mit erhitzten Wangen, redeten sie über Kunst, über Musik, einmal stritten sie, weil Marc wieder mit seiner Interesselosigkeit anfing, und damit, dass er keinen Plattenvertrag wolle, dass er nichts verdienen wolle mit der Musik. Er jobbe lieber und gebe Klavierunterricht oder putze Treppen. Aber natürlich hatte er gut reden, der Stipendienvernichter, über die große Unmittelbarkeit von Kaufhausjazz einerseits, andererseits darüber, dass er die Musik nicht verhökern wolle wie ein paar Sportsocken, und wenn er schon wieder damit anfange, so Betty, dann seien auch die Marktplatz-Brunnen-Häschen von Lisa unmittelbarer als ihre Schrottfiguren. Einmal rede er so, sagte sie, einmal so, er wisse auch offensichtlich nicht, was er eigentlich wolle. Aber Tom, der geschwiegen und seinen Wein getrunken hatte, konnte sehr gut verstehen, dass man nicht wusste, was man wollte. Wie soll man es auch wissen in dieser großen Welt, die so voll ist von Dingen, von vergangener, von kommender Zeit, von allen möglichen Möglichkeiten, dass sie unübersichtlich ist mindestens wie ein Elektronikwarenfachgeschäft, verteidigte er Marc, wie soll man da wissen, was man will?
Einmal, als sie zu dritt Hand in Hand über eine Wiese spaziert waren, dann unter einem Baum lagen und in die langsam ziehenden Wolken sahen, sagte Betty:»Meine beiden Jungs«, und sie legte ihren Kopf erst an Marcs, dann an Toms Schulter.
Am vorletzten Tag schlenderten sie durch die Fußgängerzone der Wagner-Stadt, umgeben von wiederkäuendem Oberfränkisch und unspektakulärer bundesrepublikanischer Architektur, Eis essend. Betty und Marc gingen vor Tom, ihre Köpfe waren einander zugeneigt, während Tom in einer Passantin Anne Hermanns zu erkennen meinte, seinen Gedanken aber sofort verwarf, denn es konnte ja nicht sein, nur die Haare waren ähnlich auf den ersten Blick, und doch packte er in seinem Gedächtnis Pinsel und Farbe aus und versuchte, das Anne-Hermanns-Porträt dort aufzufrischen, was ihm nicht gelingen wollte, und in diesem traurigen Augenblick drehten sich seine Freunde zu ihm, weil sie seine Traurigkeit im Rücken offenbar spürten, blieben stehen, nahmen ihn in ihre Mitte, und Marc zeigte ihnen den grünen Hügel, den sich Tom irgendwie bedeutungsvoller vorgestellt hatte.
Er dachte, dass er nicht einmal ein Foto von Anne besaß.
Als sie sich von Lisa Baldur verabschiedeten, umarmte diese Tom, drückte ihn lange, fester als erwartet, als wolle sie mit dieser Umarmung außer einer Verabschiedung noch etwas anderes sagen, aber er wusste nicht, was es sein konnte, und vergaß es gleich wieder. Sie aber stand noch lange im Tal und winkte.
Da ihn, sobald sie die Autobahn in Richtung Berlin erreicht hatten, ein schlechtes Gewissen befiel — denn wie konnte er eine ganze Woche bei Marcs Mutter verbringen, ohne wenigstens einen Abstecher bei seinen eigenen persönlichen Eltern zu machen, der Rabensohn? — , kehrten sie am Kreuz Nürnberg Ost um und fuhren knapp zwei Stunden später durch die von Einfamilienhäusern und Vorgärten gesäumten leeren Straßen seines Heimatdorfes Aschberg/Rhön, wo der Wechsel von Licht und Wolkenschatten, die über den Asphalt eilten, das einzig Belebte zu sein schien an diesem Samstagnachmittag, da die Herbstastern schon gepflanzt, die Einfahrten für den Sonntag gefegt waren und die Kärcher schwiegen. Einmal eine Katze, die unter einem Opel hervorsprang und in einer Thuja-Mauer verschwand. Es kam ihm vor, als führe er zum ersten Mal an diesen schlafenden Häusern vorbei, die er doch traumhaft wiederzuerkennen meinte.
Als sie vor der Haustür standen, an der ein grünes Plastikkränzchen hing, das ihm fremd war, bereute er seinen Entschluss, aber er drückte auf die Klingel, hörte das Läuten im steinernen Hausflur, von dem er schon jetzt wusste, wie er riechen würde, wenn sich die Tür öffnete, ein Geruch, etwa wie frisch Gedrucktes, Plastik oder Teppichboden, nicht angenehm und nicht unangenehm, der aus dem Souterrainbüro seines Vaters stammte und der ihm erst aufgefallen war, als er nicht mehr hier wohnte, sondern nur mehr zu Besuch kam. Er hörte die Schritte, sah den sich nähernden Umriss seiner Mutter durch die rechts an die Eingangstür angrenzenden Glasbausteine. Vielleicht fiel ihr Blick zuerst auf Betty oder Marc, denn, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, schien sie einige Minuten zu benötigen, um zu verstehen, wer hier unerwartet geläutet hatte, nicht der Bofrost-Lieferant und nicht die Gemeindeblatt-Kassiererin, sondern der eigene persönliche Sohn. Sie war in erster Linie erschrocken darüber, wie ihm schien, in zweiter Linie erfreut. Er hätte doch Bescheid geben können, sagte die Mutter, die offenbar frisch beim Friseur gewesen war, mit festem geföntem Lockenhaar, weil, so dachte Tom, sicherlich am Montag eine Beerdigung stattfinden würde, und sie wischte ihre Hände an der Schürze ab, denn sie backe Kuchen, sagte sie entschuldigend, zum Glück backe sie Kuchen, als hätte sie es geahnt, dass sie kämen, aber er hätte doch wenigstens telefonieren können, dann hätte sie ein Essen vorbereitet, so habe man gar nichts im Haus, warum er nichts gesagt habe, und sie wischte abermals die bereits sauberen Hände an der Schürze ab, bevor sie ihren Sohn knapp umarmte und sich dann kurz mit den Fingern unterhalb der feuchten Augen entlangfuhr, deren Lider blinzelten, als müssten sie Tränen zurückhalten, aber es ist ja keine Verabschiedung, sondern eine Begrüßung, dachte Tom.
Er schämte sich, als sie in den kahlen Flur traten, in dem der erwartete Geruch nicht wahrnehmbar, sondern vom Kuchenduft überdeckt war. Er hätte seine Freunde nicht hierherbringen sollen, dachte er und schämte sich gleichzeitig für sich selbst, dass er sich für die eigenen Eltern schämte. Betty und Marc aber lächelten und gaben sich fröhlich.
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