Marc war es gewesen, der ihnen eingeredet hatte, dass es etwas ganz Besonderes sei, wie sie beide gemeinsam Schumann spielten, dass sie unbedingt auch Schubert, er schrie es fast, gemeinsam spielen müssten , und der ihnen noch am selben Vormittag voll Begeisterung aus seinen vielen Notenkartons die gesammelten Schumannlieder, mehrere Schubertausgaben, Noten über Noten heraussuchte, Gustav Mahler, Wolf, Strauss.
Holler, im Zug nach Rom, seinem schlafenden Kollegen gegenübersitzend, betrachtet den wie an einem Gummiband hin und her baumelnden, endlich schweigenden Diedrich-Kopf und verwirft seine Liebestheorie. Er kann sich kaum in diesem Schumann-Moment in Betty verliebt haben, schließlich war er noch Monate mit Nicki zusammen, befand sich ja gewissermaßen in seiner ersten Nicki-Verliebtheitsphase, zwar gegen Ende des Stadiums, das eventuell schon ins zweite überleitet, wenn das große Gefühl allmählich ins Gewohnte übergeht und man die Wangengrübchen langsam kennt, außerdem die Beschaffenheit gewisser Hautpartien, wenn man auch die Augenfarbe erschöpfend analysiert hat — in Nickis Fall ein Blaugrau zwischen Heidelbeere und Taube — und langsam wieder zur Tagesordnung übergeht, weniger erstaunt, aber immerhin noch verliebt.
Trotzdem erinnert er sich an diesen fast schmerzhaften Schumann-Moment, dem einige ähnliche folgten. Es war, als wären sie gezwungen gewesen, einander unausgesetzt in die Augen zu sehen, während sie diese Lieder spielten. Oder gemeinsam auf einem zu schmalen Handtuch im Freibad zu liegen. Jemandem Feuer anzubieten und aufgrund von Wind die Hände um diejenigen des andern legen zu müssen und sich dabei aus Versehen etwas länger als notwendig zu berühren. Wenn sie beispielsweise nach einer dynamischen Steigerung zum Fortissimo langsam in ein leises Ritardando hinabschritten, so ineinander verschmolzen, dass sich jedes Atmen, jede kleinste Verzögerung sofort auf den andern übertrug.
Aber Holler kann niemandem die Schuld geben, nicht Schumann, nicht Schubert, auch nicht Hugo Wolf oder Richard Strauss, nicht den» Vier letzten Liedern«, auch nicht Mahler und den» Kindertotenliedern«, und nicht Marc, der ihnen immer mehr Noten anbrachte und selber viel komponierte in jenen Tagen, offensichtlich inspiriert, der deshalb tagelang fehlte, zwar mit ihnen Kaffee trank, aber kaum ansprechbar, sondern mit einer Glaskugel um den Kopf anwesend, aber nicht wirklich erreichbar war. Nur für Momente, in denen er Betty küsste, als erinnerte er sich plötzlich an sie, zerbrach die durchsichtige Hülle, wenn er sie dann lange betrachtete oder Tom, seinem Freund, den Arm um die Schulter legte und vielleicht einen Witz machte.
Im Sommer desselben Jahres kamen sie in den zweifelhaften Genuss, zusammen mit Diedrich von Jagow, genannt Didi, eine Mucke, wie man sagte, zu spielen, die dieser aufgetan hatte, und weil sich seine bayerischen Verwandten, der Inhaber einer mittelständischen Schraubenfabrik und Gattin, für die Taufe ihres Enkelkinds ein Saxofontrio,»aber bitte mit Gesang«, vorstellten, hatte der hochwohlgeborene Holzbläser den Pianisten Holler und die Sopranistin Morgenthal hinzugebeten. Es gab 400 DM für jeden, plus Fahrtkosten und Übernachtung. Sie spielten abgeschmackte Jazzstandards, ganz so, dass es zur Taufgesellschaft passte und dass es die Gastgeber» ganz wunderbar «fanden. Die Gastgeber standen auf dem frisch gesprengten Rasen herum mit ihren bayerischen Trachten-Loden-Kombinationen und mit ihren Champagnergläsern in der Hand und schwenkten zu der» ganz wunderbaren «Jazzmusik (gesprochen» Chääsmusik«) die Hüften und unterhielten sich gut, während jede zweite Minute irgendein adliger Pate oder ein schwerindustrieller Onkel oder eine in der Lokalpolitik tätige Tante der singenden Betty mitten im Lied das Mikrofon aus der Hand riss, um eine verbissen witzige oder auch augenzwinkernd nachdenkliche Rede zu halten.
In einer ihrer Setpausen gingen sie hinunter zum familieneigenen See, über dessen glattes Wasser Schwäne schwebten und an dessen Ufer ein kleiner weißer Pavillon stand, in welchem Diedrich seine Musikerkollegen kichernd über die besonderen Umstände dieser Taufe aufklärte: Der Kindsvater, ein Dr. Korbinian von Schwendt, Unternehmensberater und erfolgreich im In- und Ausland, betrog seine Frau, Diedrichs Großcousine, ja schon seit langem. Noch bevor sie vor zwei Jahren geheiratet hatten, hatte er sie alle zwei Tage mit irgendeiner Sekretärin oder Key-Managerin oder Sales-Account-Direktorin hintergangen, was Diedrich zufällig wusste, was allerdings jetzt, nach der Geburt des Kindes, leider auch die betrogene Mutter und Ehefrau Friederike herausgefunden hatte. Deshalb war es vor ein paar Wochen zu einem unschönen Eklat gekommen, und Diedrichs Cousine verlangte, nachdem sie wohl einen beträchtlichen Teil des Familienporzellans an verschiedenen Wänden zerhauen hatte, die Scheidung. Diedrich kicherte, als er es erzählte, auch Tom hatte kichern müssen, während er auf den ruhigen See hinausschaute und in großen Schlucken Champagner trank, den sie in vielen hohen Gläsern auf einem Tablett gehortet hatten.
«Und diese Scheißtaufe«, hatte Diedrich gerufen, glucksend,»findet jetzt trotzdem statt«, er klopfte sich auf die Schenkel,»auf den Termin genau, als wäre nichts gewesen.«
Sie lachten, obgleich es eigentlich nicht lustig, sondern traurig war, wie die junge Mutter mit ihrer Sonnenbrille vor den verheulten Augen in ihrem Designer-Dirndl den ganzen Nachmittag auf hochhackigen, sicher unbequemen Pumps herumstakste, den Säugling im Arm, und ihr Noch-Ehemann im Loden-Anzug, immer einen flotten Spruch auf den Lippen, die Glückwünsche entgegennahm.
Am Abend, nachdem sie noch mehrere belanglose Sets zum Besten gegeben hatten, die von der Gesellschaft, während sie Hummer und bayerischen Schweinebraten und Apfelstrudel verzehrte, komplett ignoriert worden waren, gingen sie erneut zum Seepavillon hinunter, an dem nun Lampions leuchteten, außerdem der Mond, die Schwäne im tropfenden Licht. Sie standen an der Holzbrüstung und tranken Sekt. Tom, bereits reichlich alkoholisiert, so dass er inzwischen wirklich alles urkomisch fand, rauchte und fand es schade, dass Marc nicht dabei war, aber einen Kontrabass hatte man nicht haben wollen, wozu einen Kontrabass? hatte sich die süddeutsche Täuflingsfamilie gefragt, denn preisbewusst war man trotz des vielen Geldes auch. Was ein Spaß aber wäre es erst mit Marc gewesen, dachte Tom, während er rauchte und beobachtete, wie einer der Schwäne in einer melodiösen Halsbewegung seinen Kopf unter den Flügel steckte, um zu schlafen, und als er die Asche über die Holzbrüstung klopfte, fiel sein Blick zufällig auf Bettys linke Hand, die auf der Brüstung lag, und auf Diedrichs Hand knapp daneben, diese immer schon runde, ein wenig fett wirkende Hand mit Grübchen über den Knöcheln, die im Begriff war, sich auf diejenige Bettys zu schieben, zuerst der kleine Finger, tastend, dann schließlich die ganze Hand auf ihrer.
Tom schloss die Augen, presste die Lider nachdrücklich zusammen, der Alkohol, das Zwielicht, offenbar hatte er Wahrnehmungsstörungen. Er öffnete die Augen, und er sah, wie Betty ihre Hand zurückzog, sie zusammen mit der anderen auf ihren Rücken legte. Leicht wiegte sie ihren Oberkörper, die Augen blickten zum See, als suchte sie etwas. Daneben stand Diedrich, zu nah, wie Tom jetzt bemerkte, und sein Blick klebte auf ihrer Wange, auf ihrem Hals, an ihrem Schlüsselbein, rutschte klebrig über ihren ganzen Körper, wie Tom beobachtete, über diesen Körper, der plötzlich, in diesem dämmrigen Mond- und Lampionlicht, das auf ihr Haar tropfte, darin ein leichter Juniwind wehte, eine Sensation war. Ihr beglänztes Profil, die Stirn mit den bis in die Schläfen spitz zulaufenden Brauen, gerade Nase, ein wenig nach innen geschwungen, der Mund, dessen Oberlippe etwas vorstand, das kleine, aber entschiedene Kinn, darunter die gebogene Linie des Halses, gut sichtbar, weil sie zur Feier des Tages die Haare hochgesteckt hatte, die pulsierende Vertiefung am Schlüsselbein, darüber ein Leberfleck. Ihre Brust in diesem, wie er plötzlich feststellte, doch weit ausgeschnittenen Oberteil. Die nackten Arme, die sie auf dem Rücken verkreuzt hatte. Er kannte das alles, aber plötzlich kam es ihm fremd vor, er sah es zum ersten Mal. Außerdem sah er leider Diedrich, der nach wie vor neben ihr stand und jetzt anfing, ihr etwas ins Ohr zu flüstern, woraufhin sie den Kopf in die andere Richtung, in seine Richtung, neigte, lachend. Er roch ihr Parfum. Auch Diedrich lachte, flüsterte wieder etwas. Er war, wie Tom, etwas kleiner als Betty, nicht viel, er musste also seinen Kopf recken, um zu flüstern, er reckte sich, er flüsterte, und auf Bettys Rücken, über ihren verschränkten Händen lagen schon wieder seine runden speckigen Finger. Tom stellte sein leeres Champagnerglas fest auf die Holzbrüstung, wobei es leider zu Bruch ging und zu Boden stürzte (was keine Absicht war), er drehte sich um und lief über den Rasen davon.
Читать дальше