«Ach, mach doch, was du willst«, presst er langsam hervor, mit jambischem Rhythmus, und quetscht sich durch die Tür auf den Gang hinaus, wo ein Alter mit Sonnenbrille, rauchend, steht und offenbar an ihrem kleinen Diskurs höchst interessiert ist. Noch einmal dreht sich von Jagow zu Holler um.»Leck mich doch, echt!«, sagt er. Dann ist er weg, indem er die Tür mit einem Krachen zusammenschiebt. So kann er nun auch wieder sein.
Vor dem Zugfenster Rom, Stazione Termini.
Ich bin verliebt, ich bin nicht, ich bin verliebt, ich bin nicht, ich bin verliebt, ich bin nicht. Ich bin. Scheiße.
Als sie damals nach Berlin zurückgekommen waren, hatte er sich vorgenommen, alles Geschehene zu vergessen. Schon im Leihwagen, in dem sie schweigend saßen — abgesehen von Diedrichs Geplauder, von seiner geradezu euphorischen Prognose, dass man mit der Musik richtig Geld machen könne, wenn man es nur klug genug anstelle —, hatte Tom sich vorgenommen, diesen Liebesunsinn ein für alle Mal aus seinem Kopf zu reißen. Er wusste, dass Liebe nicht zwingend ist, Liebe muss nicht sein, man kann sie genausogut umgehen, bevor sie sich ohnehin von selbst auflöst. Liebe, sagte er sich, ist durch die Gedankenkraft eines mit Intelligenz ausgestatteten, durch Jahrtausende der Evolution vernünftig gewordenen Menschen zu überwinden. (Außerdem war nichts geschehen, wie er sich sagte, sie hatten ein paar Mal zusammen musiziert, er hatte Betty bei Gelegenheit kurz mit der Hand an der Wange berührt, wie er sie schon oft berührt hatte. Na und.)
Also hielt er sich wochenlang bei Nicki auf, sie hatten Sex, sie gingen spazieren, sie gingen ins Kino, wo sie sich küssten, sich Popcornstücke gegenseitig mit der Zunge in den Mund schoben, sie fuhren mit Marc, mit Betty an den See, wo die beiden Frauen nebeneinanderlagen und plauderten, während er mit Marc im Wald spazieren ging. Für den Schubert hatte er kaum mehr Zeit, er musste Jazzstücke üben, nicht Schubert, auch nicht Schumann, und Betty verstand das, weshalb sie sowohl den Schubert als auch den Schumann liegen ließen. Er übte Improvisieren. Wenn er nicht Klavier spielte oder bei Nicki war, saß er mit Marc im Proberaum, da sie sich vorgenommen hatten, aus dem gesammelten Live-Material ihrer Tour eine Platte zu produzieren. Betty sah er nur zwischen Tür und Angel. Kam sie zum Frühstücken in die Küche, war er schon fertig, schloss sie die Haustür auf, war er gerade auf dem Sprung. Hatte sie für alle gekocht, konnte er an diesem Abend nichts essen. Er ging ihr aus dem Weg, was den Effekt hatte, dass sie endgültig in seinem Kopf einzog, sich dort immer mehr ausbreitete, sich räkelte auf einem riesigroten Sofa in seinem armen Kopf, vollkommen nackt.
Marc hatte inzwischen die Rohfassung seines Orchesterwerks fertiggestellt, seine Abschlusskomposition, ein monumentales einsätziges Werk, das die Töne in ein Standbild presste. Es war ein radikaler Entwurf, ein Gemälde aus Musik, dem Versuch entsprungen, den einzelnen Stimmführungen die Linearität zu nehmen, der Musik ihr Element zu entziehen: nämlich die Zeit. Einzig die Klangfarbe änderte sich, von einem dunklen Hörnergrollen hin zum Sonnenglitzern der Trompeten, zum gleißenden Streicherflimmern. Eine ganze Nacht lang saßen Tom und Marc über die Partitur gebeugt im Proberaum und vergegenwärtigten sich den geronnenen Klang.
«Nach zwei Jahren weiß man Bescheid«, sagte Marc, nachdem sie minutenlang in die Dämmerung hinausgesehen hatten,»denke ich. «Sein Blick war von Zigarettenrauch verschleiert.
«Worüber weiß man Bescheid?«
«Über die Liebe«, sagte Marc.
Tom, der keine Lust hatte, ausgerechnet mit Marc über die Liebe zu reden, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und schwieg.
«Das erste Jahr vergeht, und man ist verliebt«, fuhr Marc fort.»Das ist klar. Das zweite Jahr vergeht, und man ist nicht mehr so verliebt, sondern man ist hauptsächlich damit beschäftigt, darüber erschrocken zu sein, dass man nicht mehr so verliebt ist. Aber am Ende des zweiten Jahres, wenn man sich an den Schreck sozusagen gewöhnt hat, weiß man, ob es weitergeht oder ob es nicht weitergeht.«
«Und bei euch?«, fragte Tom brüchig, aus dem Fenster sehend, also beiläufig.
«Geht weiter«, sagte Marc, er lächelte.
«Schön«, sagte Tom.
Nicki kam ihm zuvor, indem sie die Sache beendete. Sie sagte,»die Sache«, was ihr vermutlich euphemistisch vorkam, sie sagte bewusst nicht» die Liebe «oder» unsere Beziehung «oder» diese ganze Scheiße«, sondern sie sagte, dass sie glaube, dass es besser wäre,»wenn wir die Sache beenden«. Habe sie so das Gefühl. Er nickte nur, sagte, dass er das auch glaube, fügte nach einem Zögern hinzu, dass man ja befreundet bleiben könne, er wollte weiter ausholen mit seinem Freundschaftsdiskurs, ließ es aber bleiben, als er Nickis Blick bemerkte, der ihm eigenartig starr vorkam. Draußen war Herbst, also passend, rostige, leuchtende Blätterspiralen wirbelten im Wind.
Wochenlang fühlte er sich absolut frei, auch befreit von Betty, er brauchte niemanden, dessen war er sich sicher, außer Marc, und nichts brauchte er weniger als eine Liebesalltäglichkeit, auf die es hinauslaufen würde, auf die nämlich alle sogenannte Liebe früher oder später hinauslief, auf Ikeadiskussionen, dieses oder jenes Billy-Regal, diese oder jene Bettgröße, dazu auf Fußmassagen am offenen Kamin im Ikeasofa sitzend, auf Urlaube in Bio-Bauernhöfen, auf kleinkarierte Diskussionen um Geld oder Zahnpastatuben, um Kinder, um Steuerschlupflöcher, Autoreparaturen. Das sagte er sich. Das brauchte er nicht. Er hatte die Musik, um die Langeweile zu vertreiben, er hatte Marc. Freundschaft, dachte er, und er äußerte es einmal Marc gegenüber, ganz im allgemeinen, philosophischen Sinn, hält länger frisch als die Liebe. Freundschaft hat kein Verfallsdatum, muss nicht mit irgendwelchen Taschenspielertricks am Leben gehalten werden, Freundschaft stirbt nicht in der Zeit, sondern, im Gegenteil, sie wächst noch darin. So Tom. Plötzlich, als er, etwas beschämt, auf seine Knie hinabsah, wurde er von Marc umarmt, ohne zu wissen, was los war.
Dann wieder, grundlos, erschien ihm Betty Morgenthal unerhört schön und anmutig. Wie sie am Fenster stand, gedankenverloren, wie sie in einem Kochtopf rührte, wie sie, telefonierend, den Kopf neigte, während er von hinten ihren Nacken betrachtete.
Und ihre Stimme, die er im Winter wieder öfter hören musste, weil das Münchner Label auf Veröffentlichung drängte. Ihre Stimme, gegen die er sich plötzlich nicht mehr wehren konnte, samtig, vielfarbig, gefühlvoll, dass ihm fast schlecht wurde und er sich mehrere Male erheben musste, um das Fenster aufzureißen, Wind einzulassen, dunklen Winter, schmutzige Feuchte, und sich zu vergewissern, wo er sich eigentlich befand: Berlin und nicht Italien und nicht Himmel. Wieder ging er ihr aus dem Weg, vermied es, sie anzusehen, wenn es nicht unbedingt sein musste, ignorierte sie, was ihm einiges an Vorstellungskraft abverlangte, ein Stückchen Nichts aus Betty Morgenthal zu machen.
Zwischen Weihnachten und Silvester gaben sie ein Konzert in einem Club in Friedrichshain, einen sogenannten Showcase, organisiert vom ambitionierten Münchner Independent-Label, zu dem auch der rosenwangige Münchner Labelchef persönlich anreiste. Grundsätzlich war er begeistert, hatte aber daneben einige kaum als solche wahrnehmbare Kritikpunkte. Den Zuhörer immer mitbedenken war die Quintessenz, dem Zuhörer nicht allzu viel abverlangen, die musikalische Kost weniger sperrig gestalten, den Musikbrei besser durchköcheln, damit er niemandem im Hals stecken bleibt, ruhig die Harmonie zulassen, das Leben kann so schön sein, die Welt ist schön, warum immer das Unharmonische, das Hässliche sehen, den Musikbrei durchköcheln und auch ein wenig Süßstoff hineintun, sie können doch so schön spielen, warum das immer sofort kaputtmachen, warum das Schöne immer sofort in den Lärmfleischwolf hineindrehen? Warum nicht mal die Schönheit einer Melodielinie zulassen , warum nicht mal einen Swing-Groove durch spielen, warum nicht mal sagen:»Hey, okay, das ist Barjazz, aber ich find’s geil??«Er lächelte, ließ eine Pause, lächelte dann weiter und redete noch ein halbes Stündchen, ohne je das Wort» Verkaufen «zu verwenden. Er trank wieder nur Wasser, dazwischen ein Bitterlemon. Marc, der lange geschwiegen hatte, mit erhobenen Augenbrauen durch den Münchner Labelchef hindurchsehend wie durch Pergamentpapier, sagte, als sich der Münchner Labelchef gerade verabschieden wollte, plötzlich:»Nein!«
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