Eine halbe Stunde später hatte Marianna sich für den billigeren, antikisierenden Kübel mit Fries entschieden und die gesparten neun Euro in einen heruntergesetzten, aufrecht stehenden Hasen aus Ton investiert, der, wie sie sich vorstellen konnte, auf dem hinteren Gartenmäuerchen, gegenüber vom Küchenfenster, perfekt zur Geltung käme. Bruno hatte auch dazu genickt.
Während sie gemeinsam die Gegenstände in den Polo stapelten, fragte sich Betty, ob die Sandris aufhören würden zu kaufen, wenn Sohn und Schwiegertochter endlich ein Enkelkind herstellten. Oder ob sich ihre Kauftätigkeit in solch einem Fall auf Enkelkinderzubehör umlenken würde. Kinder und Kaufen, dachte sie, während sie den Hasen gegen das Polster der Rückbank drückte, K. und K., sie sind die beliebtesten Waffen gegen den Verfall. Wie oft hatte sie es erlebt, dass einem Sterbenden auf der Krebsstation im letzten Augenblick noch neu gekaufte Dinge ans Bett gebracht worden waren, allerlei Kleidung, elektronische Geräte, Schmuck und das Kleinkind, bevor der Beschenkte kurze Zeit, wenige Tage, ja oft Stunden später verstarb und die nagelneuen Dinge um ihn herum verwaist zurückließ. Der nagelneue DVD-Player, mochte man aber gedacht haben, und das Kind, solange sie da sind, stirbt keiner!
Betty verstaute die kleine Yuccapalme hinter dem Fahrersitz. Sie drückte den Hasen ins Polster, damit er nicht umfiel und zerbrach. Sie wickelte einen alten Schal um den Hasen, stopfte einen Pullover zwischen zwei Pflanzkübel, rückte ein Unkrautvernichtungsmittel zurecht und dachte vage an Kinder. Spielende Kinder mit leeren Gesichtern im Sandkasten der Großeltern. Das Haar weiß im gleißenden Sonnenlicht. Sie dachte an Alfredo, weil Gedanken flink sind, abprallen wie Kugeln an harten Wänden und unberechenbare Richtungen einschlagen. Als sie das Telefon aus ihrer Hosentasche grub, um ihn endlich anzurufen, klingelte es.
Ein Lüftchen rauschte elektronisch verstärkt an ihrem Ohr, und vom anderen Ende der Verbindung klang gedämpfter Verkehrslärm, Hupen, Großstadt, während Marianna ihr eine kleine Blechgießkanne reichte.»Ein Geschenk«, sagte sie erklärend,»ein Geschenk für irgendjemanden, wenn man mal ein Geschenk braucht. «Betty, das rauschende Telefon am Ohr, warf die Gießkanne auf den Sitz, drängte sich an der erstaunten Schwiegermutter vorbei auf die Weite des Parkplatzes, wo sie breitbeinig stehen blieb, die Sandris im Rücken. Vor ihr das Netz der weißen Parkmarkierungen. Seine Regelmäßigkeit erschien ihr beruhigend auf einmal.
«Hallo, Tom«, sagte sie.
«Hallo, Betty«, sagte er. Rauschen. Das Dröhnen eines Martinshorns. Atmen in der Leitung und das Klacken einer Münze.
«Bist du in der Telefonzelle?«, fragte sie.
«Ja, mein Handy«, sagte er und zögerte,»mein Handy ist alle.«
«Man …«, sagte sie.»Ich verstehe dich schlecht. Der Empfang ist schlecht.«
«Ja. «Dann schwieg er. Sie hörte Stadt um ihn herum, Glockengeläut jetzt.
«Wo bist du?«, fragte sie und starrte in den Himmel, der an den Rändern schon vom Abendrot getönt war.
«Rom«, sagte er.»Ich bin in Rom.«
«Rom«, wiederholte sie.»Schön. «Sie hörte ihr eigenes Atmen, elektronisch verstärkt.
«Am Dienstag sind wir in Neapel«, sagte er. Wieder ein Münzklacken.
«Ja.«
«Wir spielen um acht im Teatro August, Teatro …«
«Teatro Augusteo, ich weiß. «Es wurde geschwiegen, und während sie auf diesem riesigen Parkplatz den Kopf in den Nacken legte und sich langsam um die eigene Achse drehte, klein gegen die kahlen Berge, die Schilder, den Himmel, wunderte sie sich, dass sie sogar dieses Schweigen erkannte, wie viel mehr diese Stimme, nach all den Jahren. Etwas tiefer vielleicht, aber zweifellos dieselbe. Der Polo und der an ihn gelehnte Schwiegervater tauchten vor ihr auf. Marianna, die mit kippendem Schritt den Einkaufswagen zurückschob.
In Rom wurde noch immer geschwiegen.
«Tja«, sie räusperte sich. Streckte ihren Rücken, wuchs in den Himmel.»Wenn uns nichts einfällt, legen wir wohl wieder auf.«
«Nein«, sagte er. Glockengetöse.»Du hast dich nicht verändert.«
«Du auch nicht«, sagte sie. Stellte fest, dass sie lächelte. Ihr Lächeln aber traf auf Marianna, die zurücklächelte und ihren Anorak glatt strich.
«Also gibt’s noch Karten?«, fragte sie, um auf den Punkt zu kommen.
«Ich lass dir eine zurücklegen. Aber es ist schrecklich.«
«Das hab ich mir schon gedacht«, sagte sie.»Am besten am Rand, dann kann ich wieder gehen, wenn ich es nicht aushalte. «Sie hörte, dass auch er lächelte.
«Du musst wenigstens draußen auf mich warten«, sagte er.
«Okay«, sagte sie.
«Ich bin der am Klavier.«
«Und ich bin sehr alt und werde ein rotes Kleid tragen«, sagte sie und hielt es sofort für einen misslungenen Scherz. Das Glockengeläut in der Leitung. Ein Papiertaschentuch wurde von einer Windböe über den Asphalt getragen, über die weißen Markierungslinien, bis es sich am Stahlfuß eines Abfalleimers verfing. Ein Räuspern, Atmen in ihrem Ohr.
«Auf welchen Namen?«, fragte er.
«Was?«
«Die Karte.«
«Morgenthal«, sagte sie.»Betty. «Sie wusste nicht, ob er wusste. Wahrscheinlich konnte er es sich denken, aber sicherheitshalber fügte sie hinzu:»Ich muss Schluss machen, meine Schwiegereltern warten, wir sind einkaufen.«
«Okay«, sagte er, bog die letzte Silbe des Wortes in die Höhe.
«Also dann«, sprach sie, aber etwas hielt ihr Ohr fest. Eine Schnur durchs Telefon, die sich spannte, zwischen ihr und dieser Stimme, diesem Schweigen.
«Bis dann also«, sagte er.
«Bis dann«, sagte sie,»und gib dir bloß Mühe. «Sie riss sich los und legte auf.
Tom aber, den Hörer in der Hand, sah gedankenleer durch die verkratzte Scheibe der Telefonzelle in die Ewige Stadt. Die Schlucht der vierspurigen Straße, die sich tief zwischen die Steilwände der Palazzi grub. Die Kathedrale gegenüber, hoch und steil, warf ihr Geläut bis in den Himmel. Und hinter den Kratzern und stumpfen Flecken der Plexiglasscheibe zogen Menschen vorüber, deren Mäntel und Einkaufstaschen an der Tür entlangstrichen. Tom wartete und schaute, bis sich der Abend auf die Dächer gesenkt hatte. Dann fiel ihm ein, was zu tun war: den Hörer auf die Gabel legen.
Was er gemacht habe? fragte, ohne ihn anzusehen, Diedrich, nachdem er lange Zeit geschwiegen und das Basthütchen seines roséfarbenen Cocktails zwischen den Fingern gedreht hatte.
«Eingekauft«, sagte Tom, der sicherheitshalber einen Barhocker zwischen sich und seinem Kollegen frei ließ.
«Aha«, sagte Didi, offensichtlich noch immer beleidigt.»Und was?«, fragte er.
«Klamotten«, sagte Tom. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er die Tüte irgendwo hatte stehen lassen, wahrscheinlich in der Telefonzelle.
«Was hab ich dir eigentlich getan?«, fragte Didi und sah über Toms Kopf hinweg in das plüschige Dunkel der Hotellounge. Ein schmerzhaftes Lächeln zog an seinem Mundwinkel. Tom betrachtete sein Gesicht. Es sah jung aus, noch immer, weich und kaum beschattet von Bartwuchs, auch auf Händen und Armen spross höchstens Flaum. Das lockige Haupthaar wurde von Diedrich täglich gewaschen und gefönt und mit Gel verschönert. Tom Holler, wann immer er an seinen Saxofon spielenden Kollegen dachte, stellte sich diesen mit Sonnenbrille im Haar vor, obwohl er nie eine trug. Mit Sonnenbrille über der etwas glänzenden Stirn, die schnell dicke Falten warf, so als dächte er beständig über etwas nach, was er, Hollers Ansicht nach, in Wahrheit niemals tat.
«Ist irgendwas an mir?«Diedrich betastete sich die Wange.
«Nein, nein, nichts«, sagte Tom und winkte dem Barmann. Eigentlich hatte er sich entschuldigen wollen, ließ es nun aber sein, da ihn diese gerunzelte Stirn, über die eine ins Haar geschobene Sonnenbrille gehörte, schon wieder aufregte. Auch regte ihn auf, dass ihn Diedrich mit einer Kunsthistorikerin hatte verkuppeln wollen. (Wenigstens keine Theaterwissenschaftlerin, dachte er andererseits.) Er schwieg und bestellte sich Bier. Erst als das Glas schon wieder leer war, erinnerte er sich, dass er auf Alkohol hatte verzichten wollen, ja geglaubt hatte, in seiner Lage auf Alkohol verzichten zu müssen , aber schon stand ein zweites Bier vor ihm da. Gedämpfte Pianomusik.
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