Als der Wagen durch den Schnee zurückschlich, nahm Tom auf der Rückbank Bettys Hand. Sie ließ sie ihm, aber zufällig, so schien es, weil sie gar nicht bemerkte, wo sie lag.
Der Morgen drängte sich ohne Vorankündigung ins Zimmer. Im Flur unten klingelte ein Telefon. Die schlurfenden Schritte der Hauswirtin.
Betty durchquerte das Zimmer, ohne Tom anzusehen, so als ginge das alles nur sie etwas an, während ihre Hände den Pullover tief über die Hüften hinabzogen. Vielleicht hatte sie auch einfach vergessen, dass er mit ihr in diesem Zimmer saß, wie sie es womöglich die ganze Nacht über vergessen hatte. Das Erstaunen, das in ihrem Blick lag, als er die Treppe hinunterstieg, in Richtung Diele, wo Betty und die Zimmerwirtin vor dem Telefon standen, als erwarteten sie von ihm noch irgendeinen Zusatz, eine Berichtigung, schien sich mehr auf seine, Toms, Anwesenheit zu beziehen als auf die Nachricht, dass man Marc gefunden habe.
MORGEN (NUN WILL DIE SONN’ SO HELL…)
Warum sie in Krankenhäusern immer Aquarien hatten, fragte er sich. Warum diese Krankenhausaquarien immer gegenüber von gepolsterten Besuchersesseln aufgestellt sein mussten. Warum die Krankenhausaquarienfische identisch waren mit allen anderen Fischen auf der Welt, obwohl sie tagaus, tagein von den verweinten Augen Hinterbliebener oder Sterbenskranker angestarrt wurden. Warum sie trotzdem schimmerten und farbenprächtige wendige Streifen durchs grünstumme Wasser zogen, wie es nur je Aquarienfische vermochten.
Warum sie ihn ins Krankenhaus gebracht hatten. Warum sie ihn hier besuchten. Warum sie ihn überhaupt besuchten.
Er antwortete sich: Wenn er in einem Krankenhaus ist, antwortete er sich, dann kann es so schlimm eigentlich nicht sein. Wenn man ihn besuchen kann. Wenn er hier auf ihren Besuch wartet. Wenn sie Besucher sind wie all die anderen hier, die durch die Flure gleiten, mit ihren zellophanverhüllten Blumensträußen, den eingewickelten Saftflaschen, Kleiderkoffern, antwortete er sich, dann ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Aber sie hatten nichts mitgebracht.
Ein orangegestreifter Fisch schwebte nah an die Glasscheibe heran, blieb sekundenlang bewegungslos stehen und betrachtete ihn nachdenklich. Dann kamen sie. Ein Polizeibeamter und ein Arzt. Es war ein kleines Krankenhaus, aber Tom hatte das Gefühl, nie mehr jemals den Weg zurückzufinden durch diese lackierten Gänge, Klapptüren, Aufzüge, Treppen, Kellerflure, durchzuckt von Neonlicht. Verhüllte Betten, die an ihnen vorbeigeschoben wurden, Betten, die aus Aufzügen ragten mit baumelnden Pappschildern.
Sie näherten sich einer Wölbung unter einem grünen Laken. Das Laken wurde zurückgeschlagen, Tom wusste nicht, von wem, vielleicht hob es sich von selbst, legte einen Körper frei, ein metallener Laut fuhr in die Stille, irgendein Besteck, das auf Blech traf. Tom spürte den Impuls, sich die Ohren zuzuhalten, vorwurfsvoll fixierte er den Polizeibeamten, als wäre der Lärm dessen Schuld. Fragender Blick zurück. Und fragender Blick zur Bahre, als wolle der Beamte Verbindungslinien ziehen zwischen ihm und dem Körper, der dort ausgestreckt lag. Schmal, bleich, kein Mensch. Die Lippen geschlossen, aber nicht ganz, sondern durchschimmert von der Reihe der Zähne. Sein Haar liegt leblos, dachte Tom, zu einer seltsamen Frisur gerichtet, die sein Freund niemals hatte. Die Haut ist nicht aus Haut, sondern tatsächlich wächsern, wie man sagt. Tom musste umgehend an Madame Tussaud oder Truffaut denken und an die Frage, was in aller Welt Menschen davon haben, als Wachsleichen in England ausgestellt zu sein. Gleichzeitig oder um Sekundenblitze versetzt, sagte er sich, dass es verrückt sei, jetzt an Madame Tussaud oder Truffaut denken zu müssen. Wieder betrachtete er die eigenartige Frisur des Toten, denn das Haar, obgleich es noch wuchs, wie gesagt wurde, das Haar war es, das ihm am leblosesten erschien. Es hatte seine Farbe verloren, flachsartig und steif lag es in einer erstarrten Welle über der Stirn. Darunter, auf der Wange, der Lichtpunkt eines Strahlers. Tom verfolgte ihn mit den Augen zurück bis zum Chromgestell unter der gekachelten Decke und erinnerte sich plötzlich an irgendeinen Nachmittag, an dem sie gemeinsam, Tom und Marc, in der Ikea-Lampenabteilung gewesen waren, um Lampen für Notenpulte zu kaufen, und aber nichts gekauft hatten.
Der Lichtpunkt auf seiner Wange. Tom erschrak über die Kälte, ein eisiges Licht, als die Außenseite seiner Hand auf der Wange des Körpers lag und der Kopf des Körpers und das erstarrte Wellenhaar sich kaum merklich unter der Berührung bewegten, was ihn erstaunte.
«Nein«, sagte er. Und noch mal:»Nein. «Er lachte etwas. Verhalten, bemühte sich, wenn er schon lachen musste, es dann aber leise zu tun, an solchem Ort.
Der Polizeibeamte räusperte sich. Vielleicht, um sein Lachen zu übertönen. Sah fragend in sein Gesicht, als hätte er in einem unverständlichen Idiom zu ihm gesprochen.
«Er ist es nicht«, sagte Tom. Jetzt vollkommen ernst. Und rückwärts entfernte er sich von der Bahre, von Betty, dem Polizeibeamten, beschrieb einen Bogen, beschleunigte den Schritt, bis er mit dem Rücken an eine Wand knallte.
Als er ins Freie tritt, weht Frühlingsluft in sein Gesicht. Vogelgesang. Blauer Himmel biegt sich hoch über dem Land. Ein dunkler Wagen summt auf dem Parkplatz vorüber, hält an und entlässt eine Familie voll lachender Kinder mit Blumensträußen. Die Dächer im Tal glänzen metallisch unter dem neuen Tag, feucht von tauendem Schnee. Und eine große scharfkantige Helle hat die Konturen aller Dinge aus dem Hintergrund getrennt. Ein Mahlerlied fällt ihm ein, das er mit Betty gespielt hat:»Nun will die Sonn’ so hell aufgehn. «Er muss die Augen zukneifen, zu viel Licht, als hätte er eben eine Sonnenbrille abgesetzt. So ist es also , denkt er, während er in den hohen, klaren, lichtgetränkten Mittag blinzelt, so ist es , ein Gefühl tatsächlich, als hätte er die Welt bisher immer durch die getönten Gläser einer Sonnenbrille betrachtet. Ein zusammengefaltetes Kleiderhäufchen hat man ihnen gegeben. Marcs Jeans, sein Hemd und seinen dunkelblauen Wollpullover, an dem noch einige blonde Haare hängen, die Unterwäsche nicht. Warum nicht? Auch die Jacke nicht, weil sie fehlt, wird berichtet, weil von Marc offensichtlich ausgezogen, aus welchen Gründen auch immer. Über die Unterwäsche wird nicht gesprochen. Die Unterwäsche wird übergangen, warum auch immer, und Tom muss wieder und wieder an Marcs Unterwäsche denken, als er neben Betty durch das helle, sonnenbeschienene Samedan läuft, wo das Licht zwischen den Häuserwänden sie wärmt wie glitzerndes Badewasser.
Ein Glück ist es, ein Glücksfall , möchte man sagen, denkt er, dass Marc den Autoschlüssel nicht in der Jackentasche aufbewahrt hat, sondern in der Hose. Er befindet sich in einem kleinen durchsichtigen Plastiktäschchen, zusammen mit ein paar Geldmünzen, einem klebrigen Bonbon und einem winzigen Notizbüchlein. Es liegt oben auf dem zusammengefalteten Kleiderhaufen, Marcs Kleider, denkt Tom, waren nie so ordentlich zusammengefaltet. Und warum sie ihn überhaupt ausgezogen haben, fragt er sich plötzlich.
Damit ihm nicht kalt wird. Damit er es warm hat.
Betty läuft neben ihm lautlos, nur die Tüte mit Marcs Sachen knistert im leichten Frühlingswind. Es ist Mittagszeit, und in den Häusern entlang des Gehsteigs wird gegessen, Geschirr klappert, ein Radio spielt. Und alle Dinge und Töne der Welt stehen direkt vor ihm da, es gibt keine Entfernungen mehr: Die Berge, die Felskämme, die Häuser, Bettys Tüte, die weiß leuchtet, seine eigene Hand, die an seinem Körper hinabbaumelt, alles ist unterschiedslos da, alles blendet in grellen Farben, die Fluchten der Perspektive haben sich verkürzt, alles steht neu und frisch direkt vor ihm, in ihm, kratzt mit den Konturen in seinen Augen: eine neue, wirkliche Welt, die nichts anderes ist als eine überdeutliche, überzeichnete Attrappe.
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