An einem Samstagnachmittag, Tom Bryan war schon fort und David mit Antoine zu Bloomingdale’s Weihnachtsauslagen gucken, fand Kjell Marleen in der Badewanne liegend. Sie sagte ihm, bevor er umdrehen konnte, er solle ihr Gesellschaft leisten. Was er tat. Auf einem weißen Plastikhocker sitzend, erzählte er ihr von Hans’ letzten Tagen, seiner Düsternis, seiner Euphorie, dem Defilee der Freunde am Krankenhausbett, dem Mattwerden seiner Augen wenige Stunden vor dem Tod. Er schien durch Marleen hindurchzublicken, ihr Körper im Schleier des Wassers, in dem sich vage die Zeichnung einer Glühbirne kringelte. Als er aufhörte zu sprechen, stieg sie aus der Badewanne, drückte ihn, der aufstehen wollte, auf seinen Hocker zurück und trocknete sich ab. Es war wie ein Tanz in Zeitlupe, unterlegt von der gurgelnden Musik des ablaufenden Wassers. Dann nahm sie seine Hand, und führte ihn, da er zumindest nicht widerstand, mitten ins Loft, wo sie im Halbdunkel stehenblieben. Sie strich ihm seine Strähne aus der Stirn und hob die Augenbrauen.
Marleen kannte sie gut, die männliche Schüchternheit. Draufgänger fanden sich in ihren Betten nicht. Es schien ihr Schicksal zu sein, Männer zu entblättern, bis sie überhaupt merkten, dass sie Männer waren. Das in etwa dachte sie über Kjell. Da hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre wieder schwanger geworden, und doch fiel dieses Paar, sobald es vorbei war, entzwei, so wie die Schönheit im Spiegel, die sich selbst nicht wirklich küssen kann. Keiner von beiden nahm es schwer; sie begriffen dies als Ritus des Übergangs. Der nächste Akt fand in der Küche statt, vor der Kulisse kühn sprießender Farne. Marleen, die nie in ihrem Leben geraucht hatte, tat sich schwer mit der Marihuanatüte, aber einmal inhalieren reichte, um sie in jene andere Welt zu befördern. Sie deutete in den Hinterhof und jauchzte:»Guck mal, Gras!«
Kjell sang ihr Songs aus seinen Lieblingsmusicals vor, Oh, What a Beautiful Morning, I Loves You, Porgy und Don’t Cry for Me, Argentina , und als David und Antoine an der Tür zu hören waren, grölten sie gerade» Hit me with your rhythm stick, hit me slow and hit me quick«, was sie sofort unterdrückten. Die Arme wie Windmühlen und die Augen wie Brunnen, das gefiel Antoine gar nicht, und anstatt von Rentieren und Schneelandschaften zu berichten, zog er sich in seine Hütte zurück und schmollte. Als das Telefon klingelte, kroch er hervor und erklärte dem Anrufer, gegen jede Evidenz, dass Mama nicht zu Hause sei und auch sonst niemand, bis Marleen ihm den Hörer entwand.
Sie saß unter ihrem Hochbett, fröstelnd, und lauschte Cristinas Stimme. Die Weihnachtsvorbereitungen, ihre südafrikanische Hochzeit im Frühjahr, Großmutter Fleck im Krankenhaus. Marleen wusste, dass es nicht das war, weshalb sie anrief.
«Ach ja, und dein Franz hat angerufen. Valentin war dran und hat wohl länger mit ihm gesprochen.«
«Aber die kennen sich doch gar nicht.«
«Ich weiß. Er war einfach am Telefon. Zufall oder so. Marleen, das ist nun mal so, Valli wohnt jetzt hier.«
«Der Seelsorger im Haus.«
«Marleen, er ist nun wirklich ein Mann, der zuhören kann. Jedenfalls sind die ins Gespräch gekommen, und Franz hat so etwas gesagt wie, dass sein Versuch, sich einer ›gänzlich nach innen gewandten Gemeinschaft anzuschließen‹ — so hat Valli das wiedergegeben — letztlich nicht geglückt ist. Franz hat sein Studium abgeschlossen, aber er vermisst …«
«Crissy, das hat er doch nicht vor allen ausgebreitet, der Kaplan?«
«Valentin ist doch jetzt wieder Arzt, Mann. Oberarzt, wenn du’s genau wissen willst. Nein, das hat er nicht vor allen ausgebreitet. Er hat mich, wie sagt man, ins Vertrauen gezogen.«
«Und?«
«Nun. Franz wollte gern wissen, wo du bist, und Antoine, er hätte seit Monaten nichts mehr gehört.«
«Okay, aber was geht mich das an?«
Ein transatlantisches Fauchen in der Leitung. Cristina schien gerade eine Pause einzulegen. Marleen fühlte sich steinern, nachdem die Cannabiswirkung verflogen war.
«Crissy?«
«Ja?«
«Was soll ich denn machen?«
«Das weiß ich auch nicht, Marleen. Warum bist du denn so auf Abwehr? Valentin hat gesagt, dass ich dir das sagen muss. Und ich finde, da hat er recht.«
Es war dieser Samstagabend, als Marleen sich einen gelben linierten Notizblock nahm und in der Küche, während Antoine das Schmollen aufgegeben hatte und nun von Schaufenstern berichtete, die er glaubte gesehen zu haben, von einer vollautomatischen, hydraulischen, blinkenden Weihnachtswelt, das Ganze in 3-D, was aber mit Antoines Sprachgemisch zu tun haben mochte, Kjell ein Zuhörer mit Engelsgeduld, Marleen mit dem gelben Block auf den Knien … — dass Marleen sich besann auf etwas, was eine Muddy ihr am Wochenende zuvor eingeflüstert hatte.
Muddy, die eigentlich Maria hieß, sprach ein hartes Englisch. Marleen hatte den Namen zunächst missverstanden, und als es rauskam, fand Maria oder Mary, sie solle dabei bleiben. Muddy wohnte in der Etage über ihnen, zusammen mit Gabor, ihrer Jugendliebe aus Ungarn. Er war zuerst emigriert und hatte sie später nachgeholt. In Ungarn war er Setdesigner beim Film gewesen, hier betrieb er eine Firma für Film-Accessoires, was man dem Loft ansah, eine Wunderkammer der Unwahrscheinlichkeiten. Muddy hatte akademisch Zeichnen gelernt. Jetzt lebte sie von scherenschnittartigen, nahezu abstrakten Cartoons, die im New Yorker als Seitenfüller dienten. Gleichzeitig belieferte sie wöchentlich die Village News mit einem Comicstrip über ein Emigrantenpaar, das in einem Loft lebte, in dem die unwahrscheinlichsten Dinge zum Weiterverkauf angesammelt waren, ein komplettes Inventar des häuslichen Nordamerika der vergangenen hundert Jahre, das Muddy akribisch darstellte, am liebsten bei Nacht mit gruseligen Schatten. Irgendwie wollte es nicht recht vorwärtsgehen mit dem Leben der beiden. Sie waren nicht unglücklich, oder falls sie es waren, konnten sie es nicht zum Ausdruck bringen. Jede Folge handelte von einer Falle im Alltag, in die das Paar tappte, ungeschickt und tüchtig, fühllos und hilflos zugleich. Die Serie über die verschworenen Unglücksraben hatte Maria eine kleine Fangemeinde beschert. Soeben war ihr Vertrag mit der Village News um ein Jahr verlängert worden, und Muddy brauchte das Geld.
Allerdings, das hatte sie Marleen anvertraut, sei der Anekdotenstoff letztlich begrenzt, um nicht zu sagen aufgebraucht, so dass der Comic nur durch formale Erfindungen am Leben gehalten werden könne. Sie plante deshalb, die Helden demnächst, zumindest gelegentlich, in einer Hieroglyphensprache sprechen zu lassen, die aber nicht die üblichen Symbole verwenden sollte — Hammer oder Totenkopf —, sondern weit weniger drastische Zeichen, die in Wirklichkeit Buchstaben darstellten, eine Geheimschrift, die die eingeweihten Leser auch entschlüsseln würden können. Marleen hatte ihr zu der Idee gratuliert. Die andere sah sie erstaunt an:»Ich dachte, Typo ist dein Beruf?«
Marleen, während Antoine noch immer plapperte, machte eine Liste: Kreis, Pluszeichen, Tropfen, Jesuskreuz, Frostsymbol und einige andere Formen, die sie meinte, an schmiedeeisernen Pforten in Paris gesehen zu haben.
«Und der Davidstern?«, fragte David.
«Die Zeichen für männlich und weiblich«, schlug Kjell vor.
«Das Stoppschild!«, forderte David.
«Schnee«, flüsterte Antoine.
Kjell und David waren außer sich. Eine Geheimschrift zu erfinden war so viel erquicklicher, als sie entschlüsseln zu müssen.
Am Montag folgte wieder die Routine, Marleen mit Antoine per U-Bahn zum Kindergarten auf der Westseite, dann sie mit dem Taxi südlich um den Central Park zur Ostseite. Bei IOM lag in ihrem Fach ein Fax von Furrer, das besagte, sie möge im Januar nach Paris zurückkehren.»Sie werden dann Passeraub bis zum April auf drei oder vier seiner Reisen begleiten können, bis die Tempi Novi und alle anderen Schriften, die wir entworfen haben, bei IOM in jeder möglichen Anwendung freigegeben werden können.«
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