Antoine wurde am 8. August 1988 im Diakonissenkrankenhaus geboren, Paris, 12. Bezirk. Man hatte Marleen nicht lange zureden müssen, damit sie die neue Betäubung über das Rückenmark akzeptierte. Das Krankenzimmer war nicht klimatisiert, aber Antoine schien die Sommerhitze nichts auszumachen. Und Marleen gehörte jetzt zu jenen Menschen, die wenig Gelegenheit haben zu fragen, wie es ihnen selber geht.
In der Woche drauf war sie schon wieder im Atelier, Antoine schlafend in einer Schlinge vor dem Bauch tragend. Sie wurde empfangen wie höherer Besuch, die Arbeit blieb liegen, die Telefone wurden nicht mehr abgenommen. Furrer überreichte ihr den Gehaltsscheck für den abgelaufenen Monat. Passeraub kam aus seiner Glaskabine, berufsuntypisch strahlend, während Antoine den Meister, oder ein Licht in seinem Rücken, extraterrestrisch beglotzte.
Marleen ließ sich das alles gefallen. Auf ihrem Schreibtisch fand sie die Anfrage an PSF für die Gestaltung eines Straßenmagazins: Die Boutiquen stellen sich vor. Ein Logo war gefragt, das nicht nach altem Paris aussah und keinen Kiezmuff verströmte. Ob sich nicht Mademoiselle Marlène damit befassen könnte, falls sie nicht schon ihr Kind bekommen habe, wozu man dann gratuliere. Marleen ließ sich in den fünfbeinigen italienischen Drehstuhl zurücksinken, dessen wie ein Frack verlängerte Rückseite sie federnd auffing.
Sie gab Antoine die Brust, der mit der Berührung die Augen schloss. Sie betrachtete die Vorstufen vergangener Entwürfe an der Wand ihrer Nische, die Rue Mouffetard in allen möglichen Varianten, und immer noch die alten Ausdrucke von Hamburgerfonts in der Tempi . Etwas später spürte Marlen einen Schatten vom Gang her. Sie drehte den Stuhl, bis sie erkennen konnte, dass es Monique war. Die stand da, stumm, und sah der Mutter zu, wie das Kind an ihr saugte. Marleen mit ihrer Lesebrille wirkte, als wäre sie ihrem Arbeitsplatz nur für Minuten ferngeblieben.
«Alles gutgegangen?«, fragte Monique.
«Ich glaube schon«, sagte Marleen.
Antoine hatte sich zurückgelehnt und die Augen geöffnet. Monique nahm seine linke Hand und prüfte die winzigen Finger.
«Das sind die Ziffern.«
«Ja richtig«, sagte Marleen,»eins bis zehn.«
Monique lächelte nachsichtig. Marleen machte keine Anstalten, ihre feuchte Brust zu verbergen.
«Im Prinzip schon«, hauchte Monique.»Null bis neun.«
Wie warm es war im September, wie heiß unter der Mittagssonne zwischen den Blechkisten, die eine Modellschau all dessen abgaben, was in Detroit vom Band gelaufen war zwischen 1963 und 1981; das jüngste Auto war acht Jahre alt. Kjell fragte den Verkäufer zweimal, ob er glaube, dass» der Blaue «eine Fahrt von drei Tagen überstehen würde, aber schon die Probefahrt war überwältigend gewesen. Der Delta 88 war eines jener großen Autoschiffe, schwer, schwankend, stark, das Lenkrad mit einem Finger zu bewegen, die Bremsen prompt, die Schaltung automatisch. Das Heulen in fünf oder sechs Tonlagen beim Anfahren ging über in ein fast unhörbares, aber spürbares Pochen, das Herz eines Riesen. In den großen Scheiben zog die Stadt Austin vorbei, ein Bilderbogen.
«Wow, die Siebziger«, sagte Hans, als der Wagen vorfuhr.
Seine Sachen waren unvollständig gepackt. Kjell versenkte die Koffer im Kofferraum, die darin verschwanden wie Handtaschen, und trug den Rest einzeln raus, das Auto rückwärts geparkt vor dem fensterlosen Seiteneingang eines zweistöckigen Hauses jenseits der Gleisanlagen. Sie verließen die Wohnung wie Amerikaner, mit schmutzigen Tellern auf dem Tisch, Erdnussbutter im Schrank und zwei Wochen Mietschulden.
Die Dobro, silbrig glänzend, lag auf dem Rücksitz. Hans dirigierte Kjell in die vierte Straße, bat ihn, neben dem Musikhaus zu parken, und hieß ihn, die Gitarre zu nehmen und tausend Dollar zu verlangen.
«Das musst du machen. Ich versteh’ nichts davon«, sagte Kjell.
«Ist besser so, bestimmt. Guck mich an. Ich bin nichts mehr wert. «Da war etwas dran. Hans sah aus, dass man sich fragte, wozu er tausend Dollar brauche. Für einen Sarg?
People’s Music führte oben die Instrumente und das Equipment, im Souterrain die Musik. Kjell verkaufte erst die Gitarre und besorgte dann einige 8-tracks, Tonbänder in Plastikgehäusen von der Größe eines Buchs, sieben Stück in einer schwarzen Plastiktüte, die er im Handschuhfach versenkte. Dann ging es los.
Noch in Texas wurde es dunkel, die Billboards schienen größer in der anbrechenden Nacht. Kjell fragte Hans, was er glaube, wie man so eine Landschaft nenne, Steppe oder Tundra. Hans sagte, er wisse das nicht. Aber er habe einmal ein Buch besessen, noch als Kind, in dem ein Junge in eine Stadt hätte ziehen müssen, mit den Eltern, und was er dort vermisst hätte, sei die Prärie gewesen. Deshalb habe er sich, als sein Geburtstag kam,»ein Stück Prärie «gewünscht, und die Enttäuschung sei groß gewesen, als er es nicht bekam.»Deshalb habe ich das auch nie vergessen. Weil man als Leser doch hätte wissen müssen, dass man eine Landschaft nicht versetzen kann; aber trotzdem, weil der Junge es sich so sehr wünscht, hält man es selbst für möglich.«
«Eine Fata morgana«, sagte Kjell, aber er kam nicht dazu, den Einfall zu erläutern, denn er hatte den idealen Diner am Rand der großen Straße gefunden, mit Sitzgruppen, die hintereinander aufgereiht waren wie in einem Eisenbahnabteil. Sie waren mittlerweile im südlichen Oklahoma, und aus der Jukebox dröhnte ein stählerner Countryhit. Die Bedienung riet ihnen freundlich ab, zwei kleine Portionen vom Kohlsalat zu bestellen, was begreiflich wurde, als die eine kam, ungefähr ein Kilo in der Schale. Kjell aß mit großer Lust einen gewaltigen Burger, Hans fast nichts. Erst als Kjell beim Zahlen ein Bündel Hundertdollarscheine auffaltete, fragte ihn Hans, wie viel er für die Dobro eigentlich bekommen habe.
«Elfhundertfünfzig«, sagte Kjell.
«Donnerwetter, wie hast du das gemacht?«
«Fünfzehnhundert verlangt.«
«Du bist echt der Sohn eines Geschäftsmanns.«
«Unbestritten«, sagte Kjell.»Können wir von dem Geld tanken?«
«Ja, natürlich. Es wäre aber gut, wenn genug übrig bleibt für das Ticket nach Schweden.«
Kjell sah Hans an, im harten Licht, das vom Diner auf den Parkplatz fiel.»Kannst du fahren?«
«Denk’ schon«, sagte Hans. Dann bollerten sie weiter. Kjell neigte seinen Sitz zurück, der eigentlich ein Sessel war, blaues Kunstleder, justierte den Gurt nach, so gut es liegend möglich war, und fiel in den Landstraßenschlaf, dessen Rhythmus der der Lichter ist, die das Auge, das geschlossene, erreichen. Irgendwann, mitten in der Nacht, gab es einen dumpfen Schlag, ein Rumpeln unter den Rädern, dann stand der Wagen; fahle, gerupfte Büsche im Scheinwerferlicht. Kjell schrie, Hans war stumm, den Fuß auf der Bremse, die Gangschaltung noch in Drive. Kjell legte sie um auf P, öffnete den Verschluss des Gurts, drückte die mächtige Beifahrertür auf und schrie noch einmal, denn in der Dunkelheit, jenseits des roten Schotters, von dem er nur eine Handspanne sah, tat sich ein Abgrund auf, aus dem ein kalter Wind blies. Er warf sich über Hans’ Beine, um die unter dem Lenkrad versteckte Handbremse zu ziehen, drehte den Schlüssel um, dann wieder halb zurück wegen des Lichts, fand die Warnblinkanlage nicht, hieß Hans aussteigen — aber nicht zum Straßenrand gehen —, stieg über die Schaltung weg auf den Fahrersitz, umarmte draußen Hans, der schlotterte, und besah sich dann das Auto von vorn. Im rechten Kotflügel war eine fausttiefe Delle und ein langer Kratzer dahinter. Das rechte Vorderrad stand auf dem äußersten Rand der befestigten Straße. Das Auto schwankte, als ein Mack-Lastwagen vorbeizog wie ein Haus auf Rädern.
Das war kurz vor Tulsa gewesen. Unbedingt hatte Hans über Tulsa fahren wollen, wegen irgendeines Musikers, der von dort stammte. Den Rest von Oklahoma und den ganzen Weg durch Arkansas lag er auf dem Rücksitz des Wagens, gegen den hellen Himmel des Automobils starrend, der wie ein Schirm die Lichter der folgenden, der entgegenkommenden und quer zur Fahrtrichtung stehenden Autos auffing und mischte wie die Palette des Malers, der sein Leben dem weißen Bild verschrieben hat. Im Neonnebel eines Truckstops sah Kjell ihn an, wie er da lag, die Wangen schon eingefallen und mit einem Hauch von Grau, die Lippen schmal und farblos, die Stirn wie ihre eigene Nachformung aus Gips. Was war er doch für ein prächtiger Junge gewesen, stark, schnell, ein Tänzer; damals noch mit langen Haaren, ein Klempnersohn aus Knäred, angelandet in Lund, unzufrieden oder noch nicht am Ziel.
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