So kam es, dass die corporate identity für Kleinstunternehmer in ihre Nische spülte, zwei Aufträge pro Woche und mehr. Buchstaben in Logos zu zwingen kam ihr vor wie Kindergarten für Hochbegabte. Erwünscht war eine bestimmte Mischung von Artigkeit und Rabaukentum, Analphabetismus und Bilderrausch. Man konnte sich darin nicht versenken wie in die echte Typografie, die Konstruktion von Alphabeten. Denn Logos und Signets brauchten Ideen, der Spleen war gefragt, die Montage nur noch Technik. Es war Niklas Furrer gewesen, der bemerkt hatte, dass Marleen, bei aller Strenge, ein Händchen für so etwas hatte.
Einen Nachmittag nahm sie sich frei, um das Ladengeschäft von Tête zu besichtigen. Die Gründer waren kaum älter als sie selbst. Einer hatte sich eine Silbernadel durch einen Nasenflügel gesteckt. Die Couturière trug einen ledernen Minirock, am unteren Ende gesäumt mit Ösen rundherum. Das Ladenlokal war fast fertig, die Oberflächen wurden geschliffen. Erst jetzt begriff Marleen — hatte sie den Auftrag nicht Satz für Satz gelesen? — , dass es nicht nur um Geschäftspapier und Einkaufstüten ging, sondern auch um das Schild über dem Eingang, das sich die Clique, euphorisch, als emaillierten Klotz vorstellte, der zur Straße querstehen würde. Aber was hieß schon Schild:
«Das muss stehen wie ein Messer!«
«Wie eine Kamera, die die ganze Straße erfasst.«
«Das Ding muss so sexy sein, dass die Leute phantasieren, sie würden bei Nacht wiederkommen und es abmontieren.«
Das waren die Vorstellungen der Belegschaft, die ausschließlich aus Chefs bestand, alle in schwarzer Kleidung, schmal geschnitten, mit Nieten und Ösen.
Marleen fragte:»Seid ihr so was wie Punks?«
Grinsen:»Wieso, kotzen wir auf die Straße?«(Der junge Mann flüsterte fast!)
«Nous sommes New Wave«, sagte die Lady, wobei die englischen Worte klangen, als kämen sie durch eine Düse.
Marleen übernahm die Kinder gegen sieben und hatte sie gegen halb acht im Bett, dann Janosch, dann ihr Atmen, halb weggeschluckt vom Rauschen der Straße da unten, und das Tick-tick war die untaugliche Leerrille einer Platte, die die Jaccottets vor dem Weggehen gehört hatten.
Sie setzte sich an den Küchentisch, nahm Notizblock und Kuli und zeichnete ihren Entwurf nach, das Dach über den beiden» e «s links und rechts. Weg damit. Variante: nur ein ê, das Dach riesig. Dach ist Kopf, Kopf ist Dach! Ihrer Mutter würde das gefallen. Weingart würde sagen, das ist gut gefühlt. Glaubte Marleen. Im nächsten Moment kam es ihr kindisch vor.
Sie sah sich die Küche an, die saubere Kollektion der Messer, das geprägte Firmenlogo auf der Kühlschranktür, die altertümliche Riffelung des Transistorradios. Sie machte die Runde zu den Betten der Kinder: Katie schlummerte unter den Blüten ihres Bettzeugs; David schnaufte in inniger Umarmung mit dem Bärli.
Als sie in die Küche zurückkam, sah sie das gerahmte Bild. Nie zuvor hatte sie es beachtet. Es war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme als Poster, der Name des Fotografen darunter feierlich ausbuchstabiert. Es zeigte einen Jungen, der fröhlich, von zwei gleichaltrigen Mädchen beobachtet, eine Kopfsteinpflastergasse hinuntersprang, unter dem Arm ein Baguette. Sie trat näher heran. An der Hausecke war sogar das Straßenschild zu erkennen: Rue Mouffetard. Plötzlich war sie hellwach.
Auf dem Kühlschrank lag ein Baguette im Halbschatten, das in der typischen Weise schnabelte. Marleen setzte sich an den Tisch und zeichnete den Bogen nach. Das gefiel ihr, wie das abhob. Sie ergänzte das schwebende Dach mit einem vertikalen Balken zum» T«. Darunter schob sie wieder die beiden» e «s. Jetzt war es kein Haus mehr und kein Kopf — die Figur eines Athleten, vielleicht. Schön, aber noch nicht zu entziffern. Sie stellte das» eTe «auf ein Rechteck, ein Band, in das sie den vollen Namen in breitgezogenen Lettern setzte, im Negativ. Das tiefschwarze Band verwandelte sich in eine Straße, auf der ein Athlet sich näherte. Sie musste an die Zeichnung einer schwarzen Katze denken, die sich mit hochgestelltem Schwanz vom Betrachter entfernt, auf der Jagd. War das nicht auch ein Motiv aus Paris? Marleen erlaubte sich ein Glas vom Roten. Sie aß vom Baguette. Als die Jaccottets zurückkamen, war sie über ihren Entwürfen eingeschlafen.
«Ein wenig rätselhaft darf es sein«, sagte Furrer.»Die bildliche Kraft ist entscheidend.«
«Vor allem ist es irgendwie frisch«, gab Stüssi zu.»Halb Körper, halb Maschine. Sie müssen die ›e‹s noch schmaler führen, eckiger, fieser. Und gehen Sie nicht selbst hin, um es zu zeigen, schicken Sie einen Boten mit dem Entwurf auf Folie, nicht zu klein, tiefschwarz, scharf wie eine Klinge.«
Zwei Wochen später war der junge Journalist wieder da. Er beglotzte Marleen durch seine riesige Brille. Sie saß in ihrer Nische, über einen handgeschriebenen Schriftzug gebeugt.»Nur eine kleine Überarbeitung«, sagte sie. Er notierte es. Mit dem Weitwinkel machte er ein Foto von ihr, auf sie hinunterblickend.
Es war Mitte April, als die Zeitschrift kam. Sie zeigte drei schwarz-weiße Signets, RIEN, Tête, agnès b., und ein Bild von Marleen in ihrer Nische, die aussah wie ein Gewölbe. Das alles auf einer unteren halben Seite. Durch das Weitwinkel erschien ihr schmales Gesicht noch schmaler, während der Bauch in der Bildmitte saß wie ein Ball. Der Text, in unterschiedlichen Schriftstärken, war um die Bilder gemauert, auf Englisch, Französisch und Deutsch:
«Wer die rasante Stadterneuerung östlich des Boul’ Mich’ beobachtet, kennt die frischen, lichten, lauten Boutiquen wie Tête, Le Peuple Vert, RIEN und Bad Taste Lounge — ein Hauch von London hält Einzug in Paris. Die besten Signets kommen von einer jungen Deutschen, deren messerscharfe Skizzen den Imprint von Passeraub, Stüssi und Furrer tragen. Ausgebildet bei Tomas Weingart, verknüpft sie den Beat des New Wave mit der schmiedeeisernen Solidität des Art déco. Paris war schon immer reich an kommerziellen Zeichen von hoher Definition, aber das Logo von Tête ist nicht weniger als das Schmuckstück der Rue Mouffetard geworden, halb schwarzer Block im Aufmarsch, halb Superman landend, ein Typo-Werkstück, das in jeder Größe seine Kraft entfaltet, bis in die Miniatur eines Preisschilds. Marleen Schuller, 23, blickt mit feurigen Augen in die Zukunft, oder jedenfalls in die Ferne, während die Rundung in ihrem nicht so kleinen Schwarzen (by agnès b., deren Logo für den japanischen Markt sie gerade überarbeitet hat) von einer näher gelegenen Mission kündet. Chapeau!«
Auf ihrem Schreibtisch fand sie einen Grand Cru. Der konnte nur von Stüssi sein. Stüssi war es, der die Laune hochhielt, Lobenswertes lobte, Entwürfe aushängte, Geburtstage nicht vergaß; ein Kurzportrait in der Fachpresse, in diesem Fall. Aber Marleen wusste, dass solche Aufmerksamkeiten nicht selbstlos gemeint waren. Stüssi war der Manager der Werkstatt, er konnte Arbeitsplätze schaffen oder streichen. Er schnitt die Abteilungen zu auf ihre Aufgaben. Er besuchte sie an ihrem Arbeitsplatz, den guten Moment auskostend, und ließ sie wissen:
«Wenn Sie wirklich so versessen sind auf typografische Basisfragen, dann müssen Sie nur da rüberschauen. «Er wies mit seinen Augen durch die Glaswand auf die Citronique, an der zwei Gestalten klebten.»Unsere Branche ist ziemlich nachlässig gewesen, was Speichermedien betrifft. Aber die Gutenberggalaxis ist nicht unendlich. Alles, was wir können — was Sie können, Marleen —, muss am Ende niedergelegt sein in Programmen. Was unser Gewerbe brauchen wird, sind Leute, die tief ins Elektronische schauen, die die Möglichkeiten dessen kennen und trotzdem das Handwerk noch beherrschen. Denken Sie mal drüber nach.«
Man war durchaus fair gewesen, sie für ein Jahr zu bestellen. Nur, dass der Zeitpunkt der Entbindung mit einem der letzten Arbeitstage zusammenfallen würde. Sie musste an Nördlingen denken, wo man irgendwann aufgehört hatte, ihre zukünftige Abwesenheit zu erwähnen. Vielleicht hätte sie die milde Form des Unglücks wählen sollen, Uli Steidle heiraten, Sie welle zoohle? Damals hatte sie nein gesagt. Aber hatte sie jetzt ja gesagt? Wie war es dem Schicksal gelungen, Macht zu bekommen über ihre Bestimmung? Sie hatte es geschafft, ihre Schwangerschaft zu ignorieren (Vitamine rauf und Rotwein runter, das schon), aber vor allem hatte sie sich eingelebt, konnte inzwischen auf Französisch antworten und verstand sogar das Schweizerdeutsch. Sie war dem Typopfad gefolgt bis dorthin, wo er eng wurde, wo man wusste, dass man nichts wusste, und jenseits dessen hatte sich eine Stadt aus Buchstaben aufgetan. Merkwürdig, wie hart man erst gegen sich selbst werden musste, um nicht mehr zu vergessen als man lernte. Kaum zu fassen, dass sie beim Lesen im Französischen weniger stolperte als im Deutschen: Haben die einfach die besseren Schriften? Quatsch, das muss etwas mit dem Spracherwerb zu tun haben. Allein der ganze Fernsehmüll, den wir uns als Kinder reingetan haben, dass das erlaubt war, und wahrscheinlich habe ich schon mit acht geahnt, dass Papa stiften geht, und habe deshalb schief durch meine Brille geguckt. Plötzlich fiel ihr Ingolf ein, der Junge mit dem Afro und den Fransenshorts. Ihr wurde warm im Bauch.
Читать дальше