Niemand wurde gezwungen mitzuziehen, aber die Verlockungen waren beträchtlich. Marleens Einführung in den Luxus und die Moden erfolgte noch in der Grundschulzeit. Das ganze zweite Schuljahr hatte sie eine Brille tragen müssen, die auf der rechten Seite mit einem Milchglas blind gemacht worden war. Nur schwer hatte die Mama sie hinwegtrösten können über das, was andere Kinder ihr hinterherriefen. Im Herbst 1973, nach der Rückkehr aus Cornwall, war das Ende der Maßnahme gekommen. Eine letzte Fahrt mit Papa im rostigen Alfa zur Augenklinik in Düsseldorf, danach in die Altstadt: eine vornehm erleuchtete Halle ausschließlich brillentragende Optiker mit vornehmen langen Händen, die immer neue Gestelle auf ledergepolsterten Tischchen präsentierten. Dort ließ man sie die durchsichtigen und die silberdrahtgerahmten Brillen probieren, mit denen sie aussah wie die kleine Ausgabe einer Sekretärin. Erst vorsichtig, dann bestimmter lenkte sie der Optiker zu den rehbraunen Gestellen, von den zarten zu den kräftigeren, von den rehbraunen zu den perlmuttschimmernden und anthrazitfarbenen, bis sie die tropfenförmige Rodenstock im Gesicht hatte, eine Brille, die ihr etwas Eulenartiges gab und dabei lustig aussah, und um die Entdeckung zu feiern, hatte Petrus plötzlich die alte Kassenbrille parat, die sie noch einmal aufsetzte, ein Auge verdeckt durch das Milchglas, den Tränen nahe, und dann wieder die Rodenstock, da war die Sache klar; Abholung mit Ultraleichtgläsern, nämlich aus Plastik, übermorgen. An jenem Tag, nach der Schule, nahm sie die S-Bahn, vom Düsseldorfer Hauptbahnhof die Straßenbahn, ganz allein. In der Agentur wurde sie als Früchtchen aus der Pomona launig vorgeführt. Im Anschluss mit dem Taxi in die Altstadt. Anpassung der Brille am lederbezogenen Tischchen, ein halbes Dutzend Komplimente vom Optiker, 135 Deutsche Mark aus Papas schwerem Lederportemonnaie, danach ins Carschhaus, einmal hoch und wieder runter, über die Heinrich-Heine-Allee zu US-World, wo Petrus ihr eine knackige Levi’s verpasste und dazu ein weinrotes Sweatshirt von Fruit-of-the-Loom.
In der Schule saß Marleen an ihrem Pult und tat so, als bemerkte sie nicht, wie ihr neuer Banknachbar sie anstarrte. Ingolf hieß der. Am Ende der Stunde verschwand die Brille in einem violetten Kästchen mit dem rennenden Männchen in Gold, das eigentlich ein» R «war. Sie nahm sich, während die Schulkameraden an ihr vorbei in die Pause strömten, durchaus Zeit für diese Prozedur, inklusive Putzen der Gläser, das sollten die ruhig mal sehen.
Ingolf war ein stämmiger Bursche mit apfelroten Wangen und dunklen Locken, die ihm bis über die Ohren wuchsen. Die ersten acht Jahre seines Lebens hatte er in einer Stadt verbracht, die sich Marleen als Blumenstadt in ewiger Blüte vorstellte.
«Du kommst aus Astora, nä?«
«Nee, aus Hamburg, wieso?«
«Du hast zu Relindis gesagt, du kommst aus der Astora. Oder Dastora.«
«Aus der Diaspora.«
«Wo ist denn die Diastora?«
In Hamburg-Winterhude waren die Häuser hoch und grau gewesen, die Straßen dunkel, meistens war es Nacht. Immer regnete es. Auf den Straßen waren Banden unterwegs, Protestanten mit blondem Haar und dicken Fäusten. Man konnte kaum von der Schule bis nach Hause kommen, ohne verprügelt zu werden. Sie zwangen einen, in Hundescheiße zu treten und riefen dann» Iiih, kock ma, ’n Kathole, der stenkt!«Der Zahn, der Ingolf fehlte, hatte wohl auch damit zu tun. Das deutete er so an. Diaspora.
Schließlich war sein Vater, Flugzeugingenieur, nach Düsseldorf» gerufen «worden — das» Rufen «stellte Marleen sich vor als eine Durchsage per Lautsprecher —, und die Familie hatte sofort ein Haus in Neuss gekauft, eine Stadt, in der es zwar auch Protestanten gab, wie Ingolf wusste, aber» hier könn’ die ei’m nichts anhaben«. Den Katecheseunterricht in Hamburg zu beginnen hatte» sich nicht mehr gelohnt«, und seine Eltern fanden, er solle es nicht überstürzen. So würde er damit im folgenden Jahr in St. Pius beginnen. Die Kirche hatte er sich schon einmal angesehen. Sie gefiel ihm nicht wirklich, weil sie zu lutherisch aussah. Später, nach der Erstkommunion, als Mini in St. Quirinus zu dienen war sein eigentliches Ziel. Dort wolle er sich dann vom Weihbischof firmen lassen. Marleen wusste nicht genau, was er meinte, wagte aber nicht zu fragen. Wollte er so eine Art Priester werden?
Johanna und ihre Kombattantinnen wurden getreue Katecheseschülerinnen der Pfarre Heilige Dreikönige, deren Kirche so alt war wie der Pfarrer selbst, doppelt weltkriegserprobt, während die nächste Welle aus der Pomona nach St. Pius schwemmte, wo Marleen, Ingolf und die anderen in einem modernen Gebäude vom Kaplan Valentin empfangen würden als die, die sie waren, nämlich Kinder. Die Kinder flochten Kränze zu Erntedank. Sie bastelten Kometenlaternen für den herbstlichen Umzug. Sie würden die Geschichten aus der Bibel so nacherzählen, wie sie ihnen in Erinnerung geblieben waren. Wenn Kaplan Valentin vom Papst erzählte, würde dieser leuchtend erscheinen wie der Weihnachtsmann, weise wie Paulus und demütig wie ein Samariter. Die Kinder bewunderten den Kaplan, weil er den Papst so gut kannte, er hatte mit ihm selbst Abendbrot gegessen oder so.
In der Schule gab es keine böse Bemerkung über die Eulenbrille, was vielleicht daran lag, dass Marleen jetzt so ganz anders wirkte, und das konnte durchaus zu tun haben mit diesem Ingolf, dem Neuen, den man auf gut Glück neben sie gesetzt hatte. Dem fremden Jungen war sein Haar zu einer gewaltigen Wattekugel gewachsen, mit einem kastanienbraunen Schimmer. Marleen war überzeugt, dass nur sie ihn sah, den Schimmer, begünstigt durch die neue Brille.
Aus der dritten Reihe gab es Beschwerden. Ein kleiner bebrillter Ömmes, Sohn eines Innenstadtnotars, behauptete, ihm sei die Sicht auf die Tafel durch Ingolfs» Zottelhaar «versperrt. Am nächsten Tag wiederholte er das, in gestelzten Worten. Ingolf bestand darauf, er habe nicht vergessen, zum Friseur zu gehen. Schließlich konnte man ein Duo aus der letzten Reihe bewegen, in die zweite zu ziehen, so dass Ingolf und Marleen sich im hintersten Winkel des Klassenraums wiederfanden.
«Was ist das für eine Hose?«, flüsterte er.
«Pluh-Tschiens.«
«Woher?«
«Ju-Ess-Wörld in Düsseldorf.«
«Teuer?«
«Weiß nicht.«
Die Woche drauf trug er auch Pluh-Tschiens. Marleen verlor darüber kein Wort. Sie mochte ihn und alles, was er besaß. Er trug einen Winteranorak mit Pelzkranz in der Kapuze. Seine Schuhe waren aus rotbraunem Leder. Sein Schulranzen hatte Verschlüsse, die im Dunkeln leuchteten. Sein Schreibwerkzeug ordnete er nicht einzeln in ein Etui, sondern warf alles in einen länglichen Lederbeutel. Sein Radiergummi war ein wässrigweißer Block, der nach Früchten roch. Darauf abgebildet war ein Dackel in Orange, Korngelb, Grasgrün, Lila und Himmelblau, auf der Rückseite die Spirale der Olympischen Spiele aus dem Jahr zuvor. Den Gummi lieh Marleen sich beim Rechnen jeden Tag, zehnmal in der Stunde, und schnüffelte dran. Dann lag er zwischen ihnen wie ein Talisman. Die tragischen Spiele, aber die Farben der Zukunft. Schließlich hatte Ingolf ein Einsehen.
«Kannste haben.«
«Nee.«
«Warum nicht?«
«Weiß nicht.«
«Stell dich nicht so an!«
Jetzt besaß sie etwas, das roch, und es hatte mit Ingolf zu tun. Wenn niemand in der Nähe war, durfte sie ihm sogar in die Haare fassen. In diesen Tagen wachte sie auf und fand sich schwebend. Zum Glück war aus dem Scharnier der Brille eine Schraube verschwunden, so dass der Papa sie noch einmal nach Düsseldorf kommen ließ:
«Kann ich mit Ingolf?«
«Wer ist denn Ingolf?«
Die Aufmerksamkeit im Kleinen war noch nie der Väter Stärke; ein Mann wie Petrus kümmerte sich lieber um große Kampagnen. Am nächsten Tag würde er ein Flugzeug nach Amerika besteigen.
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