«Dat is doch Schnee von jestern«, meinte Oberholtzer.
«Das werden wir sehen«, sagte Peters, mit dem Ernst des Prokuristen Ernst.
Wie viele Sorten Kunden gibt es? sinnierte Petrus auf dem Weg nach Hause. Es gibt die, die mit dir Katz und Maus spielen. Du bist der Reklamefritze, du bist die Maus. Dann gibt es die, die zu einer Agentur kommen, als machten sie einen Ausflug zum Vergnügungspark. Sie wollen unterhalten werden, und dafür zahlen sie auch. Manche denken, wir wären so eine Art obere Behörde, oder Priesterschaft, die wollen ihr ganzes Dingens umkrempeln, mit unserer Hilfe. Und dann sind da eben immer noch Leute wie Ernst Peters, die längst Werbeleiter wären, wenn ihre Firmen richtig Werbung machen würden. Sie werden als Prokuristen alt, bevor es richtig losgeht. Aber was heißt alt, der Mann ist vielleicht zehn oder zwölf Jahre älter als du. Ob er verheiratet ist? Oder schwul? Ist er katholisch; gläubig vielleicht? Schwul und gläubig, oder verheiratet und agnostisch? Trinkt er Schnaps; hat er Angst vorm Fliegen; betatscht er seine Sekretärin? Er lässt nichts raus. Der ist ganz Binden und Tampons und so weiter. Ein Rumpelstilzchen der Hygiene. Niemand weiß, was den umtreibt. Aber was ist, wenn der Tampon wirklich ein Wunderding ist? So etwas wie der VW Käfer der Hygiene?
Lore war begeistert vom Warensortiment, das Petrus mitgebracht hatte. Ohne nachzudenken arrangierte sie es auf dem schrägen Schreibtisch wie ein Display.»›Mit Einführhülse‹. ›Hygienisches Monatshöschen‹. Klingt leicht gaga, wenn du mich fragst.«
«Wie findest du o.b.?«, fragte Petrus.
«Als Produktnamen?«
«Mhm.«
«Kennen viele. Klingt leicht. Locker. Was heißt das denn?«
«Was glaubst du?«
«Okkulter Brocken?«
«Nee.«
«Onkel Blöker.«
«Silbenverteilung stimmt.«
«Ohne Blöße.«
«Fast.«
«Ohne Binde?«
«Genau.«
«Genial. Und wer ist Dr. Carl Hahn? Ein Frauenarzt — Typ Walter Giller?«
«Ein Forstwirtschaftler. Später Automobilbau.«
«Im Ernst?«
«Ernst hoch zwei.«
Lore klappte den Rock hoch und zog den Slip herunter bis zu den Waden.»Welches zuerst?«
«Tampax.«
«Warum?«
«Da musst du dich … Da musst du deine Muschi nicht anfassen.«
«Und warum soll ich meine Muschi nicht anfassen?«
«Keine Ahnung«, sagte Petrus.»So stellen die Amerikaner sich das eben vor.«
Als die Ölkrise ausgerufen wurde, hatte Petrus eine Idee. Man könnte doch die stolzen Benzinfresser abschaffen und zwei 2CVs kaufen, eine Ente für ihn und eine für die Familie. So wurde man den brüllenden Volkswagen los und den Alfa mit dem rostenden Unterboden. Das sah gut aus, die beiden lockren Franzosen nebeneinander, mit ihren Klappfenstern und den Scheinwerfern, die herausstanden wie Fühler, wobei Lores Frage unbeantwortet blieb, wie eine sechsköpfige Familie mit einer wankenden Knattermühle würde in die Ferien fahren können.
Die Sommer bis 1968 hatten die Schullers noch in Zandvoort verbracht, als Mieter einer stillgelegten Mühle. Den Sommer drauf hatten sie Brad Kilips reetgedecktes Haus in Kampen bekommen. Weitere Entdeckungen: die Ile de Ré; die Dünen nördlich von Kopenhagen; der Comer See, mit eigenem Steg und Motorboot; zuletzt eine Kate mit Garten auf dem Rücken Cornwalls. Wie weit man auch gefahren war, schnell folgten Krethi und Plethi, wie Petrus den wachsenden Stamm der Konsumenten zu bezeichnen pflegte. Nicht, dass ihn das gestört hätte. Es durfte gern Trend werden, was man selbst bereits kannte. Die Skiferien hatten die Schullers aufgegeben, als Linus geboren wurde; eine Neujahrsmesse im Kölner Dom war stattdessen Ritual geworden.
Im November 1973 — sonntags Totenstille hinter dem Lärmschutzwall aufgrund eines Fahrverbots — schwärmte Petrus von einer amerikanischen Kampagne für Olivetti. Es war das erste Mal, dass Brad Kilip & Partner eine New Yorker Agentur ausstechen konnten, und dafür waren Petrus und Oberholtzer alle zwei Wochen» drüben«.
«Wieso«, sagte er zu Lore,»ein Flugzeug braucht kein Öl, das tankt Kerosin. «Am dritten Advent kam er wieder einmal zurück, die Pomona 133 erleuchtet wie Bethlehem, und ließ wissen, dass die amerikanische Kampagne eingetütet wäre, als Sahne auf dem Kuchen eine Einladung des stellvertretenden Vertriebsdirektors von Olivetti in dessen ungenutztes Haus bei Miami.
«Haben die nicht schrecklich heiße Sommer?«, fragte Lore.
«Nicht im Sommer, Darling. Jetzt!«
Der Tannenbaum bei Miami war dann künstlich eingeschneit, und eine Kette winziger Lichter blinkte in metallischen Farben. Er fand sich etwas verloren in der Ecke eines hölzernen Wohnzimmers einer kleinen Villa in einer Sackgasse, die am Strand endete, mit sieben weiteren, eng aneinandergerückten Villenminiaturen, die sich ähnelten. Linus stand so still vor dem blinkenden Baum, dass man hätte glauben können, er gehöre zum Arrangement. Marleen und Cristina verbrachten den ganzen Tag am Strand, Johanna hatte sich gleich am 24. einen Sonnenbrand geholt. So blieb sie in ihrem Zimmer und las ein drittes Mal Momo . Am langen Esstisch hatte sie sich den Platz gegenüber von Papa ausgesucht, wo sie kerzengrade saß und alle Anwesenden strafte, indem sie ihren Anspruch auf Rudelführerschaft plötzlich aufgab, ausgedrückt durch hartnäckiges Schweigen.
Ihre Eltern hatten keinen Grund gesehen, sie in die Katechismuslehre zu geben, bevor sie danach fragte, so dass sie schon im zehnten Lebensjahr war, als sie angemeldet wurde. Petrus, der einst das Katholikentum für ein Lebensschicksal gehalten hatte, sprach nun von der» K-Religion«; er war wenig geneigt, Johanna dem» ollen Popen «mitzugeben. Wie alle anderen Dinge des Lebens — das Zähneputzen, die Schönschrift, das Puppenhausdekor — nahm Johanna die katholische Lehre ernst und, soweit es möglich war, wörtlich, und damit sie nicht ein Wort in der Zwischenzeit vergaß, hatte sie sowohl den Katechismus als auch das Neue Testament in Florida dabei, wo sie, weil es keinen Nachttisch gab, ihr Königinnenbett mit den Büchern teilte, die Momo -Lektüre morgens und abends gerahmt von den Todsünden.
Das Fehlen dreier Neusser Gottesdienste allein an den Weihnachtstagen sowie der Neujahrsmesse im Kölner Dom stellte Johanna als Fall von Deprivation dar, auch wenn sie das Wort nicht kannte. Man hatte ihr das Kostbarste genommen und durch anderes ersetzt: Strand, Kino, Vergnügungspark. Da stand sie vor der Raketenschleuder und zog einen Flunsch, während Marleen und Cristina zum Mond fuhren und sich vor Lachen nicht mehr halten konnten, indem sie sich unaufhörlich zuriefen:»Nicht im Sommer, Darling, jetzt!«
Petrus merkte es erst in diesem Winter, aber Lore war schon früher aufgefallen, wie Johanna frömmelte. Sie fragte sich, ob Johanna dem Papa damit gefallen wollte, schließlich war es seine Konfession. Es zeigte sich jedoch, dass Petrus’ Versuch, auf das Kind Einfluss zu nehmen — routiniertes Interesse, unterlegt von Spott —, zu dem unerwünschten Ergebnis führte, dass Johanna ihrer Sache nur noch sicherer wurde. Sie fieberte ihrer Erstkommunion entgegen, ein Ereignis, das ihr Vater» Kinderkommunion «nannte, aber die Tochter belehrte ihn, mit der Erstkommunion sei man kein Kind mehr, sondern ein vollgültiges Mitglied der heiligen Römischen Kirche. Das sollte im April stattfinden, und es klang so, als wollte Johanna sich danach zurückziehen von allen weltlichen Dingen. Die Pomona 133 aber war voll davon: Citroëns und Super 8, Mikrowelle und Whirlpool, Donna Summer und Fred Feuerstein. Ihr Expansionsdrang unterschied die Schullers von anderen Familien. Das Neue war immer besser als das Alte, das Ferne besser als das Nahe. Quirlige Ferienbekanntschaften waren nörgelnden Verwandten vorzuziehen. Das Neusser Schützenfest blieb ein Kuriosum, gewiss nicht der Höhepunkt des Jahres wie für viele Bürger dieser Stadt. Die Pomona 133 war eine Hochburg des Fortschritts. Es gab dort keine Pokale und keinen in Holz geschnitzten Sinnspruch. Und wenn, dann hätte er gelautet: Don’t look back!
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