«Und was war in meinem Zimmer? Ich meine, wo ich jetzt drin schlafe?«
Die Großmutter überlegte.»Das weiß ich nicht mehr so genau. Entweder das Fotoatelier oder die Werkstatt für Typografie.«
«Was ist denn das?«
«Das kann ich dir zeigen.«
Der Witwenstand Klara Flecks mochte zu ihrer plötzlichen Beliebtheit beigetragen haben. Aber vielleicht war es auch Solidarität mit Lore, der Ältesten, die ihre beiden Geschwister dazu brachte, an diesem Juliwochenende nach Gruiten zu kommen. Angereist war Gustav, Internist in Unna, mit seinem Sohn Jörg-Uwe, der als Einzelkind die schwierige Aufgabe hatte, dem Ehrgeiz seines Vaters und dem Phlegma seiner Mutter zu entsprechen. Marijke kam mit zwei Koffern aus Amsterdam, in denen, wie sie — etwas müde und doch verführerisch — sagte, sie alles habe, was man braucht. Im einen der Silberschmuck, den sie selbst herstellte und verkaufte, im anderen einige eher kurze Sommerkleider sowie dreißig Gramm Marihuana. Das erwähnte sie allerdings nicht in Gegenwart des Bruders.
Zur gleichen Zeit kam Ingolf aus Düsseldorf, der es sich nicht hatte nehmen lassen, allein zu reisen, eine halbe Stunde mit der Bahn in die Pampa. Er war kurz zuvor neun geworden. Seine ersten Jeans hatte er inzwischen auf der Mitte des Schenkels gekappt und dann mit der Schere Fransen geschnitten, so dass daraus hot pants mit halbtransparenten Beinkleidern wurden, was Marijke entzückte. Sie überschüttete den Jungen mit Komplimenten, eifersüchtig beäugt von Marleen und Jörg-Uwe, aus unterschiedlichen Gründen. Den Pseudoafro hatte Ingolf für den Sommer stutzen lassen, aber der Junge schien immer noch größer, als er war, und kräftiger auch, der breite Kopf und die roten Wangen.
Da es bei Gruiten keinen guten Schwimmplatz gab, fuhr man halb nach Düsseldorf zurück, um den Tag am Unterbacher See zu verbringen. Im Jahr zuvor hatte man aufgehört, ihn auszubaggern. Schnell waren die Schwimmer und die Ruderer angerückt. Johanna, die eine gute Schwimmerin war, kam von der anderen Seite des Badesees zurück und berichtete, dort würden Leute nackig baden und sogar nackig auf der Wiese liegen. Sobald ihr langweilig wurde, erzählte sie es noch einmal. Und dann hatte sie Glück, weil ein Mädchen aus Erkrath ihre Philippika mithörte und ihr am Eisstand etwas zuflüsterte, was Johanna das Herz erwärmte und was sie alsbald vor den Schwestern, dem Cousin und Ingolf als eigene Einsicht ausgab, dass nämlich» das alles Protestanten sind«, denn» Katholiken machen so etwas nicht«, denn» wir wissen, dass die Unkeuschheit ein großes Unglück ist, und um keusch zu bleiben, müssen wir schamhaft sein«. Jörg-Uwe, der einzige Protestant in der Gruppe, tat so, als ginge ihn das nichts an, während Ingolf, der mit Marleen ein Handtuch zum Liegen teilte, dieser ins Ohr nuschelte, dass das alles Quatsch sei und sie auf Sylt früher immer nackt baden gegangen waren, das nenne man Freikörperkultur, und es gebe sogar Schilder dafür.
Johanna hatte gedrängt, dass man rechtzeitig zurückfuhr, weil sie um sechs am Abend in Haan in der Messe sein wollte, worauf sie sich festgelegt hatte in dem Moment, als ihre Großmutter verriet, dass Gruiten hauptsächlich protestantisch und Haan hauptsächlich katholisch war. Auf diesen Kreuzzug begab man sich mit Lores Ente, Johanna im Beifahrersitz. Glaubensritter Ingolf hielt auf dem Rücksitz die Hand seiner Marleen. Lore folgte dann den Ritualen der Messe penibel, blieb aber während der Kommunion doch sitzen, so dass Johanna das bekam, was sie wollte, einen bewunderten Auftritt als fremdes Kind unter gläubigen Erwachsenen; und den Triumph, dass sowohl Ingolf als auch Marleen nicht mitmachen durften, selbst wenn sie gewollt hätten, weil die Erstkommunion noch vor ihnen lag.
Während Lore die Gangschaltung reindrückte und rauszog wie Orgelregister, nutzte Ingolf den Rückweg von Haan nach Gruiten, um sich auszumalen, wie er nach der Erstkommunion Messdiener werden würde, nicht so ein Schussel wie der, den sie soeben gesehen hatten. Nein, er, Ingolf, würde ein» Mini «sein in makellosem Ornat, dem Sinn der Handlung in jedem Moment verpflichtet, sein Haar leuchtend wie eine Fackel der Verheißung, eine perfekte Show heiligen Ernstes. Er sprach das so nicht aus, aber der Ton seiner Stimme reichte, um mitzuteilen, wovon er träumte. Auch wiederholte Ingolf, er gedenke, dieses Amt in St. Quirinus auszuüben, was immerhin das Neusser Münster war, wo er auch die Firmung durch den Weihbischoff später erfahren würde. Es könne aber auch im Kölner Dom sein. Marleen sah ihn von der Seite an, wie er mit dem Auto in Kurvenlage ging, ein Engel, und phantasierte laut, dass sie das auch gern tun würde; dass auch sie gern Mini wäre; dass sie glaube, wenn man inständig drum bitte, zuerst die Jungfrau Maria, dann den Herrn selbst und schließlich den Pfarrer, dass es möglich sein werde, und natürlich stellte sie sich vor, dass sie den Dienst gemeinsam mit Ingolf versehen würde, gleiche Pracht und gleicher Ernst, Bluejeans unter dem Rock. Sie waren fast bei Großmutter Flecks Haus, als Johanna sich im Beifahrersitz umdrehte, Marleen fixierte und verkündete:
«Das wird niemals so sein, weil Frauen unrein sind. Sie können solche Dienste nicht versehen. Die Ordnung der Kirche ist gottgewollt, und du kannst es nicht ändern.«
So führte Johanna das Schwert gegen ihre Schwester. Die Bewunderung der Waffe überstieg die Bedenken gegen deren Einsatz. Was sie dekretierte, war bei weitem merkwürdiger als Ingolf, heimgekehrt aus der Diaspora, ahnen konnte. Denn Johanna und Marleen teilten ein Geheimnis, das als» Erste-Regel-Set «zu ihnen gekommen war, bestehend aus der instruktiven Broschüre zur Menstruation, die ihre Mutter illustriert hatte, und diversen Beigaben der Firma Carl Hahn aus Düsseldorf. Die Idee war, Mädchen vor der ersten Blutung Binden und Tampons ausprobieren zu lassen. Johanna und Marleen hatten in diesem Fall als Testpersonen gedient, und Lore, die inzwischen selbst zu Tampons gewechselt hatte, konnte dem Talk der Mädchen so viel ablauschen, dass sie wusste, dass es — hi, hi — geklappt hatte, abgesehen von den eindeutigen Hinterlassenschaften im Badezimmer.
Am Sonntag erscheint Petrus. Er hievt Linus auf die Schultern, der seinem Papa in die Haare greift und» Hüh!«ruft. Ansonsten ist die Stimmung in Gruiten etwas gedrückt. Ingolf und Jörg-Uwe spielen Tischtennis, verbissen um Punkte kämpfend. Cristina will nicht spielen, nicht einmal Schiedsrichter sein, schaut aber stundenlang zu. Marleen hat sich von Großmutter Fleck die Bauhausbücher zeigen lassen und studiert sie mit Lupe in Zeitlupe. Johanna hat sich in ihr Zimmer verkrochen. Sie antwortet nicht, als Petrus klopft. Er öffnet also die Tür zunächst nur um einen Spalt und findet sie auf ihrem Bett, Kissen überm Kopf. Auf dem Boden liegen vier Ausgaben der Brigitte , Klärchens Abonnement. Aufgeschlagen sind Seiten mit Werbung von Carl Hahn in Sachen o.b., Petrus’ eigene Kampagne. Er überfliegt die Motive und ist wieder hingerissen von seiner eigenen Idee, die Mädchenfotos ganzseitig zu platzieren und auf der gegenüberliegenden Seite den Text einspaltig dranzuhängen, so dass er wirkt wie redaktionell erstellt. Petrus hört schon das Klötern der Goldmedaille vom Art Directors Club. Auch wenn ihn das alles jetzt schon nicht mehr interessiert.
Ein fünftes Heft hat Johanna auf dem Bett begraben. Petrus entdeckt es, als er sich zu ihr setzt. Aufgeschlagen ist die Krönung der Kampagne, die Werbung für das» Erste-Regel-Set«. Das Foto zeigt ein nacktes zwölfjähriges Mädchen, das in einem altertümlichen Spiegel seine knospenden Brüste betrachtet. Petrus legt das Heft auf den Boden zu den anderen und streichelt Johanna, oder eigentlich das Kissen, was ungehaltenes Schluchzen zur Folge hat. Petrus wechselt zum Schreibtisch und liest im Katholischen Katechismus der Bistümer Deutschlands.»Für mein Leben: Ich will meinen Schutzengel lieben, ihn alle Tage andächtig anrufen, seinen Ermahnungen treu folgen und daran denken, dass er mich überall sieht. «Sehr trickreich, denkt Petrus, dieses» Für mein Leben«. Die haben schon auch sehr gute Texter. Er liest laut:
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