Wusstest du, dass die Rothaarigen langsam aussterben? sagt er gedankenverloren.
Woher weißt du das? sagt sie und setzt ein interessiertes Gesicht auf.
Er zuckt die Achseln und blickt in Richtung Fenster. Keine Ahnung, sagt er. Dann greift er zur nächsten Lamettapackung und verteilt die silbernen Fäden auf den Ästen. Der eine weiß das, der andere das, seine Stimme klingt, als müsse er nach Luft schnappen. Ist doch keine große Sache, sagt er, starrt auf die Uhr an seinem Handgelenk, dann sieht er seine Tochter an.
Sie meint diesen Blick zu kennen, doch sie ist sich nicht sicher. Sie weiß nie, was er als Nächstes tun wird. Es gibt keine erkennbaren Gesetze für ihr Zusammenleben, keine gültige Gerechtigkeit; ein Vorfall, der ihr morgens eine Tracht Prügel einbringt, kann abends nur ein müdes Lächeln bei ihm hervorrufen. Er benutzt seine Hände beim Schlagen, anders als ihre Mutter, die den Gürtel bevorzugt, und das kommt ihr irgendwie gerechter vor.
Er atmet aus und hält eine rote Glaskugel ans Licht. Schöne Farbe, sagt er, erinnert mich an was.
Und er kann malen, wie ein wirklicher Künstler, die Frauen auf seinen Bildern haben halb geschlossene Augen und spitze Brüste, doch am liebsten mag sie sein Ölgemälde, das über dem Sofa hängt, es zeigt einen gewaltigen Dreimaster, der gegen den Sturm kämpft, und im Hintergrund Blitze.
Ein Falter umkreist den Lampenschirm, flattert die Decke entlang. Ihr Vater starrt schon wieder auf die Uhr, dann zeigt er auf den Falter. Was macht der denn hier? Es ist doch Winter. Er schüttelt verständnislos den Kopf, kratzt sich unter den Achseln. Sie hat ihren Vater noch nie nackt gesehen. Als er einmal unbekleidet in der Küche stand und in den Ausguss pinkelte, hatte sie sich nicht getraut hinzugucken.
Es ist drei, sagt er, noch viel zu früh.
Der Falter lässt sich kurz auf seiner Hand nieder, dann fliegt er weiter.
Tagsüber hat es geregnet, und die Straßen sind spiegelglatt. Die Geschwister schlittern die abfallenden Wege im Park entlang. Ein eisiger Windhauch geht durch die kahlen Äste der Bäume, Kälte brennt auf ihren Wangen. Es ist Heiligabend.
Meinst du, ich bekomme den Trecker? fragt Alex.
Er ist so aufgeregt, dass er vergisst, Grimassen zu schneiden, sein Gesicht ist ruhig, seine Augen leuchten.
Bestimmt, sie nickt und tritt in das splitternde Eis einer Pfütze. Sie denkt darüber nach, ob sie zu gierig gewesen ist, zu viele Wünsche aufgeschrieben hat und ob sich das ungünstig auf die Erfüllung auswirken könnte. Doch liegt es überhaupt in ihrer Macht, ob ihre Wünsche erfüllt werden? Sie beantwortet die Frage mit einem eindeutigen Nein und fühlt sich erleichtert. Ihr Bruder scheint noch an ein Ja zu glauben, es muss einen Ort in ihm geben, wo Unschuld und Hoffnung sich aufhalten, er glaubt an Dinge — obwohl er doch oft enttäuscht wurde —, die ihr längst unmöglich vorkommen; er glaubt, dass alles normal wird, eines Tages, und allein diesen Gedanken findet sie so unwirklich, als würde sie die Augen schließen und glauben, blind zu sein.
Um acht Uhr abends steigen sie verfroren die Treppen hoch und klopfen an die Tür. Ihr Vater öffnet ihnen im Bademantel, und sie schlüpfen schnell an ihm vorbei ins Kinderzimmer. Sie haben ein kleines Weihnachtsprogramm vorbereitet. Sie hat Alex einen Umhang aus Krepppapier gebastelt, der ihn wie ein zart zerknittertes Zelt umhüllt, und auch eine Kappe, die etwas zu klein geraten ist. Sie malt ihm mit dem Augenbrauenstift ihrer Mutter einen Schnurrbart ins Gesicht, er soll aussehen wie ein Husar; der Vater hat ihnen erzählt, er selbst stamme von einem ungarischen Husaren ab.
Als sie ins Wohnzimmer gerufen werden, starrt Alex auf den leuchtenden, bunt geschmückten Baum und vergisst sich zu drehen, wie sie es vorher geprobt haben. Sie stupst ihren Bruder an, und er breitet entrückt, wie ein Schlafwandler, die Arme aus. Eine Weile lang bleibt es still. Dann ist nur das knisternde Geräusch zu hören, als Alex sich schließlich doch noch zu drehen beginnt und dabei der Umhang aus Krepppapier durch die Luft fliegt. Statt laut zu singen, flüstert er, die Kappe ist ihm längst heruntergefallen, sie räuspert sich, ohne Erfolg, ihr Bruder bewegt sich auf die Stelle unter dem Weihnachtsbaum zu, wo die Geschenke liegen, und setzt sich einfach auf den Boden. Sie hört ihre Eltern lachen und zuckt verlegen die Achseln, das Lachen ihrer Mutter geht in ein Gekicher über. Du bist ja total irre, hört sie ihren Vater laut lachend sagen, und sie begreift, dass sie nicht über sie oder ihren Bruder lachen, sie lachen über sich selbst. Sie überreicht der Mutter die gehäkelten Topflappen, ihrem Vater schenkt sie eine Zeichnung, auf der in bunten Farben ein jonglierender Clown zu sehen ist.
Danke, sagt die Mutter, und nun schau dir deine Geschenke an.
Sie packt eine rosa gekleidete Babypuppe aus und spürt den erwartungsvollen Blick der Mutter. Doch sie mag keine glatzköpfigen Babypuppen, man kann ihnen nur langweiliges Zeug anziehen, und kämmen lassen sie sich auch nicht. Sie drückt die Puppe an sich und hält die Luft an. Auf dem Fußboden liegen noch weitere Geschenke. Doch bevor sie die auspacken darf, muss sie Freude zeigen, sie muss lächeln und Worte der Dankbarkeit stammeln. Danke, sagt sie und setzt ein großes, breites Lächeln auf, danke, danke, danke. Ihre Mutter scheint keinen der falschen Töne zu hören. Freust du dich, ruft sie, mein gutes Pferdchen, der Weihnachtsmann hat sich Mühe gegeben.
Alex fährt seinen Traktor über den Boden und macht brummende Geräusche. Der Vater hat den Ärmel des Bademantels bis zum Ellbogen hochgekrempelt und bestaunt eine neue goldene Uhr an seinem Handgelenk. Die Kerzen im Baum brennen herunter, ein paar Tannennadeln werden von den Funken getroffen und entzünden sich rötlich knisternd. So riecht Weihnachten, denkt sie, und ihre Mutter springt zum Baum und bläst die letzten noch brennenden Kerzen aus, mustert den Baum von oben bis unten, dann klatscht sie in die Hände und sagt: Und nun ab in euer Zimmer.
Sie nimmt ihre Geschenke und ruft Alex, der völlig versunken mit seinem Traktor spielt und nichts zu vermissen scheint. Er trottet ihr hinterher, seine Arme voller Spielsachen, die er sorgfältig, wie jedes Jahr, vor seinem Bett platziert. So hat er sie noch vor dem Einschlafen im Blick und kann sie gleich sehen, wenn er aufwacht.
Früh morgens betrachtet sie die mit Eisblumen geschmückten Fenster und haucht kreisrunde Flecke an die Scheibe. Draußen schneit es, und sie denkt daran, dass ihr Bruder sich Schnee gewünscht hat. Aber sie wird ihn nicht wecken, denn diese Augenblicke, in denen noch alles still ist, sind ihr kostbar. Sie geht noch einmal ins Bett, nimmt ihr neues Märchenbuch und taucht ein in eine Welt, in der so viel möglich ist, wo ein Tisch sich selbst deckt, der Teufel durch ein Nadelöhr passt, wo die Armen belohnt werden und die Bösen bestraft.
Der erste Weihnachtstag verläuft sorglos, erst am Abend ist sie wieder dran. Sie hat nicht widerstehen können, ist immer wieder zum Backofen gegangen und hat von der knusprigen Gänsehaut gekostet. Die Mutter steht erstarrt vor der Gans, als könne sie nicht fassen, was geschehen ist. Der Ausdruck in ihrem Gesicht verändert sich langsam, von Verblüffung in Wut. Sie sammelt Spucke in ihrem Mund und speit auf das Fleisch. Dann stellt sie die Kasserolle auf den Tisch und setzt sich.
Guten Appetit, sagt die Mutter und schaut sie drohend an, jetzt kannst du alles aufessen.
Sie weiß, dass sie aus dieser Situation nicht rauskommt. Sie fühlt ihre Zunge dick und pelzig im Mund, ein riesiger Berg, unter dem Blick ihrer Mutter beginnt sie zu essen.
Von einem Tag auf den anderen ist der Vater wieder verschwunden, diesmal hat er all seine Sachen mitgenommen.
Die letzten Februartage sind frostig. In der Dunkelheit wird sie von der Mutter losgeschickt, um Briketts zu klauen, die in kleinen Bergen festgefroren vor den Mietshäusern liegen. Als die Kohlenhaufen auf den Straßen zur Neige gehen, füllt sie ihre Eimer im Nachbarkeller mit Kohlen. Früh, wenn noch alle schlafen, heizt sie und bringt die Asche in den Hof herunter. Sie mag es, als Erste wach zu sein, mag den Geruch des Morgens, im Mund die Kälte.
Читать дальше