Vater, sagt sie und grinst.
Ihr Vater hebt seinen Arm, als müsse er etwas abwehren, dann schließt er die Hand und ballt sie zur Faust.
Es ist still geworden um sie herum. Ihr Vater lässt den Arm sinken und sagt: Na, sieh mal einer an. Doch statt seine Tochter mit einem Feuerwerk aus Flüchen zu bedenken, wie sie es erwartet hat, lächelt er, steht auf und bleibt leicht schwankend vor ihr stehen.
Gehen wir, sagt er leise und berührt mit seiner Hand ihren Ellenbogen.
Die Frau ruft ihnen etwas hinterher, doch es bringt ihren Vater nicht dazu, sich umzudrehen. Sie spürt Stolz in sich aufsteigen, diesmal hat sie es geschafft, er kommt mit ihr nach Hause. Auf der Straße stemmen sie sich gemeinsam gegen den Wind, ihr Vater seufzt, als hätten ihn die Worte im Stich gelassen. Er hält den Kopf gesenkt, sie hat sich bei ihm untergehakt. Vor ihrem Haus bleibt er stehen, sucht etwas in seinen Hosentaschen, dann setzt er ein besorgtes Gesicht auf.
Meine Brieftasche, flüstert er, hab meine Brieftasche, mein ganzes Geld im Café vergessen.
Ich hol es dir, flüstert sie, du kannst hier warten.
Nein, sagt er. Es ist zu spät.
Ich wäre ganz schnell wieder da, verspricht sie, mit einem Flehen in ihrer Stimme.
Er schlägt mit der flachen Hand gegen die Haustür, und ohne sie anzusehen, sagt er: Geh hoch, ich komme nach. Er versucht, mit einem Stoßseufzer seine Lüge abzumildern: Denkst du, mir macht das Spaß? Dann verschwindet er im Dunkel der Straße.
Sie ist beim Klauen erwischt worden. Beinahe hätte sie sich vor Schreck in die Hosen gemacht, als die Verkäuferin ihr an der Tür den Weg verstellte. Sie sieht noch immer deren triumphierendes Grinsen vor sich und ist froh, dass ihre Beute an diesem Tag nur aus einer Schachtel Bonbons bestanden hat. Sie bleibt bei ihrer Ausrede, dass sie nur vergessen habe, zu bezahlen, wer will ihr das Gegenteil beweisen — niemand kennt ihr Lager unter dem Bett, wo sie ihr anderes Diebesgut versteckt hält.
Als der Abschnittsbevollmächtigte in die Klasse kommt, ahnt sie, dass es ihretwegen ist. Während der Polizist einen Vortrag über sozialistisches Eigentum hält, überlegt sie sich ihre Strategie. Sie wird alles abstreiten. Sie versucht in dem Gesicht des Polizisten zu lesen, wie gut ihre Chancen stehen, damit durchzukommen. Als der Beifall verebbt ist, wird sie von ihrem Klassenlehrer nach vorn an die Tafel gerufen. Herr Baum wiegt bedächtig den Kopf und spricht von einer persönlichen Enttäuschung. Seine Worte kommen ihr verlogen vor, und sie fragt sich, woran der Lehrer seine Enttäuschung misst, er weiß doch gar nichts von ihr. Sie fühlt sich gedemütigt, weil es nicht darauf ankommt, ob sie die Tat leugnet oder gesteht, ihre Schuld wird einfach vorausgesetzt. Die Empörung sitzt ihr in der Kehle, und sie entschließt sich, unschuldig zu sein; die Verkäuferin hat sich geirrt, diese Möglichkeit könnte immerhin der Wahrheit entsprechen, und so ins Unrecht gesetzt, zeigt sie einen trotzigen Stolz. Sie zuckt die Achseln und betrachtet ihren Lehrer. Er ist alt, denkt sie, mindestens dreißig, und doch hat er keine Ahnung. Sie holt tief Luft und lässt einen leisen Pfeifton hören. Herr Baum runzelt streng die Stirn. Sie pfeift lauter und ist von ihrem Mut selbst überrascht, aber nun kann sie nicht mehr zurück, laut pfeifend geht sie an ihren Platz. Sie kann die Atemgeräusche ihrer Mitschüler hören, doch dann klingelt es zur Pause, und der Polizist verabschiedet sich, als hätte er es plötzlich sehr eilig. Herr Baum begleitet ihn hinaus.
In der Pause schaut sie sich herausfordernd im Klassenzimmer um. Vor ihr sitzt Lutz, ein dürrer, hässlicher Junge, der was mit der Lunge hat und immer friert. Wenn er hustet, holt er den Schleim tief aus den Bronchien und schluckt ihn geräuschvoll herunter. Er kann nicht anders, denn sonst hätte ihn die ihn umgebende Wand aus Abscheu längst davon abgehalten. Auch er sitzt allein. Als es zur Stunde klingelt und die Schüler neben ihren Schulbänken stehen, reißt sie ihm die Hose herunter, und da steht er, in seiner entsetzlichen Magerkeit, mit einem Zitterpimmel, und sie lacht am lautesten in dem einsetzenden Chor aus Schadenfreude.
Herr Baum schaut sie an, als würde ihn ihr Anblick ermüden, und erklärt mit ernster Stimme, dass er heute noch die Jugendhilfe informieren wird.
Die Mutter versetzt die Ankündigung dieses Besuchs in Aufregung. Sie steht auf dem Flur und lässt ihren Blick schweifen. Die Geschwister müssen den Boden schrubben, die Fenster putzen, die Treppe bohnern. Alex und sie bekommen neue Schuhe, und der Vater drückt ihr zwanzig Mark in die Hand, einfach so.
Es ist eine ältere Frau, die dann vor der Tür steht. Das Treppensteigen hat sie erschöpft, ihr Atem kommt in kurzen Schüben aus dem Mund. Sie lässt sich von dem gedeckten Abendbrottisch täuschen, von der besorgten Stimme der Mutter und natürlich von der Hauptperson, die ihr glaubhaft versichert, dass sie ein ganz normales, schönes Leben führt.
Am nächsten Tag will der Vater die zwanzig Mark zurück, doch damit hat sie sowieso gerechnet.
Schlaftrunken ruft sie früh morgens ihren Bruder ans Fenster. Schneeflocken schweben durch die Luft, die Dächer glänzen weiß. Sie blinzelt reglos in das helle Gestöber; die Schläfrigkeit weicht, und Freude durchströmt sie. Die Geschwister ziehen sich eilig an und rennen nach draußen. Auf der Straße atmen sie die Schneeluft ein, reißen den Mund auf und lassen die Flocken auf der Zunge schmelzen.
Freude ist etwas Wichtiges in ihrem Leben. Sie freut sich, wenn in der Wohnung alles still ist und sie lesend im Bett liegt; wenn sie Hunger hat, liest sie ihr Lieblingsmärchen, in dem das kluge Gretel zwei Hühner für ihren Herren über dem Feuer braten soll, erst den einen Flügel, dann den anderen kostet und schließlich nicht mehr an sich halten kann und den ganzen wunderbar duftenden Braten aufisst. Immer, wenn sie dieses Märchen liest, malt sie sich genau aus, wie sie später selbst Hühner und Enten in ihrer Küche zubereiten wird, sie stellt sich einen eisernen Herd vor, die Töpfe sind groß und schwer, das Geschirr hat blaue Tupfen.
Sie spielt noch mit Puppen, und es macht ihr Freude, Kleidung für ihre Puppen zu häkeln oder ihnen aus alten Stoffresten etwas zu schneidern. Manchmal kann sie nicht einschlafen, weil sie sich den Kopf zerbricht, was Kerstin, die große Blonde, und die noch namenlose Negerpuppe anziehen sollen. Sie geht Flaschen sammeln und stiehlt Geld für das Leben ihrer Puppen.
Sie freut sich auf Weihnachten. Schon Wochen vorher plant sie genau, wer welche Geschenke bekommt. Unter ihrem Bett befinden sich neben anderem Diebesgut auch drei Blusen, jede so groß wie ein Zelt, die sie für Elviras Mutter im Kaufhaus gestohlen hat. Am Dienstag vor Weihnachten, nach dem alten Film, überreicht sie Elviras Mutter das eingewickelte Geschenk. Schwer atmend sitzt diese auf dem Küchenstuhl, der unter ihren Massen verschwindet, ihr Doppelkinn zittert, als sie versucht, die Schleife zu lösen. Sie packt die Blusen aus, hält sie hoch, eine nach der anderen.
Drei Blusen?
Rot, gelb und grün, sagt sie, ich dachte, das steht Ihnen.
Das ist sehr nett, aber warum drei?
Ich konnte mich nicht entscheiden, sagt sie, ohne zu überlegen, und fühlt ein Pochen hinter ihrer Schläfe.
Ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann, sagt Elviras Mutter. Hörbar seufzend packt sie alles wieder ein.
Das Geld hab ich gespart, sagt sie schnell, ich war Flaschen sammeln, doch dann spürt sie, dass etwas falsch ist, sie will Elviras Mutter nicht anlügen. Sie gibt zu, die Blusen gestohlen zu haben.
Damit muss Schluss sein, sagt Elviras Mutter nach einem langen Schweigen.
Sie starrt auf die dunklen Härchen über ihrer Oberlippe und verspricht es.
Ihr Vater schmückt den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, schwungvoll wirft er das Lametta über die Äste. Sie verharrt auf der Türschwelle und beobachtet ihn. Er ist älter als ihr Klassenlehrer, und doch erscheint er ihr jünger, er trägt einen blauen Overall wie ein Handwerker, zu seinen Füßen liegen bunte Kugeln und ein Wust von zerknitterten Papieren. Als er sie bemerkt, hält er kurz inne.
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