Die Erwachsenen unterhielten sich vorne und wußten die ganze Zeit von nichts — oder wollten von dem entfesselten Unzuchttreiben nichts wissen. Unter den anderen Kindern gab es dagegen etliche Neider, die sich immer wieder umdrehten und angeekelt mit den Köpfen schüttelten — wie es echte Spießer eben tun. Uns mit Liebe überschütteten Menschenkindern war das vollkommen egal. Mich versetzte die wilde Dauerverschmelzung mit den auch außer Kontrolle geratenen Mädchen in einen vollkommen unbekannten Ausnahmezustand. Von zu Hause aus kannte ich bereits einiges an Entzückung, eine derartige allerdings nicht. Sie stand mir aber — und zwar schon jetzt, nicht erst in der Zukunft — voll und ganz zu. Viel später wurde mir leider klar, daß die Mädchen an mir und meinem Freund das Küssen hauptsächlich nur üben, sich für viel wichtigere Einsätze vorbereiten wollten. Vor ihren geschlossenen Augen sahen sie sicher ganz andere Kerle vor sich.
Dieser Erlebnisabschnitt der Reise fing aber etwas anders an, fällt mir jetzt nachträglich ein. Eventuell wurde mein edelschöner Freund Michal als erster nach hinten entführt; vielleicht hatte er sich sogar — er war ein Draufgänger — selbst an die duftenden und auffällig zurechtgemachten Mädchen herangepirscht. Als ich mich wegen des von hinten verdächtig klingenden Gekichers umgedreht hatte, sah ich natürlich, was dort im Gange war. Diese Momentaufnahme taucht in meinem Erinnerungsnebel halbwegs deutlich auf. Wenn ich mich also nicht irre, habe ich mich dem lasterhaften Kreis aus eigenem Antrieb angeschlossen — und wurde zum Glück auch aufgenommen. Aber egal, wie es wirklich war — dabeisein war alles.
Autobahnen gab es bei uns damals nicht, wir fuhren auf kurvenreichen, relativ engen Landstraßen, und wir fuhren nicht besonders schnell. Zum Schluß war ich wie in Trance, und als wir anhielten und in der Nähe des Verbandsund Verlagshauses, zu dem Mutters Zeitschrift gehörte, abgesetzt wurden, hielt die traumhafte Stimmung weiter an. Ich bekam die letzten, logischerweise nur luftigen Küsse, und meine überzähligen Liebesobjekte verschwanden nacheinander. Die meisten Heimkehrer und Heimkehrerinnen wurden abgeholt, ich blieb am Ende allein und kam nicht von der Stelle. Und statt wie besprochen mit der ersten Straßenbahn nach Hause zu fahren, blieb ich dort, wo ich war und wo mir in mir so schön war. Daß ich mit meinen Lippen unbekannte Frauenmünder so ausgiebig verkosten durfte, daß ich ohne jegliche Schamgefühle die Brüste dieser glühenden Wesen befühlen durfte, war ein Quantensprung, ein Sprung um Jahre nach vorn. An diesem Punkt hatte ich mich von meinen nur auf Phantasien angewiesenen Altersgenossen auf einen Schlag verabschiedet.
In die Realität des Abends brachte mich meine Harnblase. Ich mußte auf der belebten Nationalstraße einen bescheidenen Platz zum Pinkeln finden. Einen starken Druck im Unterbauch spürte ich schon während der Fahrt, ich konnte ihn dank meiner Dauererektion zum Glück vernachlässigen — jetzt wurde der Überdruck unerträglich. Mir war jetzt aber alles egal, ich war endgültig kein Spießer mehr. Ich entblößte mich und pinkelte an die erstbeste Laterne, bis mich ein Grobian anschrie:
— Was schweinst du hier, du Schwein.
Er ließ mich aber weitermachen, und ich konnte noch während der Entleerung in Ruhe grübeln, ob das Verb» Schweinen«überhaupt existierte.
Darüber, daß mich eine wunderbare Zukunft erwartete, konnte es nach dieser Busfahrt gar keine Zweifel mehr geben. Ich war auch an profaneren Tagen von vielen aufreizenden Menschen umgeben, andere kannte ich kaum. Überall um mich herum gab es sie — einerseits brauchten diese Wesen zwar viel Liebe, andererseits waren sie auch uneingeschränkt bereit, Liebe zu geben. Offenbar lebte ich in der glücklichsten Stadt auf Erden. Als ich im Dunkeln nach Hause lief — in einer Straßenbahn hätte ich nicht für mich allein sein können — , sah ich, wie schön meine Stadt war, in was für einer zauberhaften Gegend ich wohnte. Wir wohnten wirklich sehr schön in unserer Stadt.
Der vorherige Satz ist einigermaßen ernst gemeint. Egal wann, egal wo, egal wem ich sagte, wo unsere Wohnung lag, lautete die Standardreaktion immer: — Schön, so schön, eine so wunderschöne Gegend…
Und es war tatsächlich eine Ausnahmegegend, in der unser etwas in die Breite gezogenes und mit einer dunklen Staubschicht konserviertes Mietshaus stand. Das Zentrum von Prag war nicht weit, war problemlos zu Fuß zu erreichen, trotzdem gab es in unserer Gegend viel Grün und viele unbebaute Flächen. Das Renaissanceschloß der Königin Anna — das Lustschloß Belvedere — lag in Sichtweite, und ein riesiges barockes Stadttor thronte gleich um die Ecke. Das Tor, das auf Tschechisch» Piseckä bräna «heißt, war an den Seiten mit Gras und Büschen bewachsen — und ist es bis heute, nur im anderen Pflegezustand. Von links und rechts sieht das Tor wie ein begrünter Hügel aus. Die seitlichen Hänge, also die steilen und damals nicht umzäunten Steigungen konnte man vom Bürgersteig aus problemlos betreten. Daß es eigentlich verboten war, kümmerte niemanden.
Zum Zusammenrotten von Jugendlichen war die Umgebung des Stadttores ideal. Oberhalb der Festungsgräben gab es etliche Ecken, in denen man auf dem massiven Geländer in einer Reihe sitzen und von diesen exponierten Posten den ganzen Nachmittag den Überblick behalten konnte. In der dunklen Durchfahrt des fünfundzwanzig Meter tiefen Tores hörte man oft kreischende Mädchenstimmen und ging erfahrungsgemäß von Grapschattacken aus. Die Kinder, die nicht beim Rauchen erwischt werden wollten, haben mit Vorliebe dort in der Dunkelheit geraucht und sich von den Autos, denen die Durchfahrt damals noch erlaubt war, nicht stören lassen. Das Stadttor war das eigentliche Zentrum des Geschehens, der Aktionsradius aller Beteiligten war aber wesentlich größer. Unterhalb der Stadtmauern, also in den ehemaligen Festungsgräben, wucherten teilweise dichte Büsche oder gestutzte und dicht gewordene Eibenhecken. In dem nahe gelegenen Chotek-Park, dem Lieblingspark von Franz Kafka, war der Wildwuchs in den Randzonen sowieso enorm. Überall konnte man zu ganz unterschiedlichen Zwecken untertauchen und dort für Stunden unbemerkt bleiben. Die älteren Jugendlichen nutzten die vielen Verstecke natürlich nicht zum Spielen und schleppten dorthin ihre Bräute ab. Wenn nötig, verscheuchten sie dabei die jüngeren und drohten ihnen Prügel an. Was sie dort mit ihren Weibern tatsächlich anstellten, konnten wir nur ausnahmsweise überprüfen, waren im Grunde nur auf die nachträglichen Prahlereien angewiesen. Nur ein einziger gab einmal zu, wegen eines BH-Verschlusses gescheitert und nicht sehr weit gekommen zu sein. Diese jungen Böcke kochten unsere Neugier natürlich nur zu gerne auf und ließen uns ihre Anmach-Gespräche einfach mit anhören.
— Komm mit, laß uns bumsen, komm.
— Jetzt nicht, hab' keine Zeit.
— Geht doch schnell, bist aber stur.
— Nein, will heute nicht.
— Warum gerade heute nicht?
— Hab' heute eben keine Lust.
— Hör mal auf, immer das gleiche zu plappern — wir verlieren nur Zeit.
— Ich will aber nicht.
— Mann! Jetzt hätten wir schon längst fertig sein können! Scheiße!
— Ich kann nicht.
— Hast du deine Tage? Mir macht das nichts aus. Komm doch.
— Will nicht, will heute nicht.
Das dickliche Mädchen war alles andere als schön, sah beim Sprechen immer wieder uns, das staunende junge Publikum, an, und schämte sich nicht — warum auch. Die junge Frau wurde begehrt und hatte die Macht, eine ganze geile Bande samt ihres Nachwuchses in Schach zu halten. Das nachfolgende Streitgespräch unter uns Jungkadern drehte sich vor allem um die Dauer des Geschlechtsverkehrs.
— Es ist ganz schnell vorbei. Ganz sicher, es geht wirklich ruck, zuck.
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