Die Geburtstage wurden bei uns schon am Vorabend gefeiert, meistens erst spät nach dem Abendbrot. Ich wunderte mich darüber immer wieder. Diesmal war aber einiges anders. Die Geburtstagsfeier fand am Nachmittag statt, außerdem sollte irgendwann auch mein Vater vorbeikommen. Er kam tatsächlich, mit Skopka gab es aber schon nach kurzer Zeit einen Streit, dann einen verbissenen Kampf auf dem Fußboden, obwohl es in meinem Zimmer für einen richtigen Kampf nicht genug Platz gab. Irgendwie sollten wir uns in einer schmalen Schlucht zwischen den türlosen Schränken und einem riesengroßen, fast nie genutzten Eßtisch gemütlich ausbreiten und spielen. Gleich nach dem Ringkampf ging Petr Skopka, der von den meisten mit seinem Nachnamen angeredet wurde, wieder nach Hause. Zum Glück ist ihm wenigstens mein charmanter, gutgelaunter Vater positiv aufgefallen — und er erwähnte ihn in der Schule mehrmals. So gesehen war diese Testfeier ein Erfolg. Daß mein Vater an dem Tag — wie üblich — leicht angetrunken war, ging mir erst viel später auf.
Mein durch die zwei zusätzlichen Blumenschränke verunstaltetes Zimmer wurde nach dem Kampf mit Skopka für ein Jahrzehnt zu einer absoluten Sperrzone, und ich war erst in einer Notsituation wieder bereit, jemanden hereinzulassen. Der mit mir befreundete Glückspilz Nr. 2 war nur besuchsweise in Prag und mußte einen Abend irgendwo totschlagen. Wir saßen unbequem auf dem ehemaligen Bett der Baronin, als Tisch diente uns eine wackelige Platte, die lose auf einem wuchtigen Schiffskoffer lag. Den großen Eßtisch gab es nicht mehr. Dummerweise beschloß meine liebe Großmutter Lizzy, Sidis ehemalige Freundin, sich ausgerechnet an diesem Abend auch in» meinem «Zimmer aufzuhalten. Sie setzte sich auf ihr Bett, begann mit ihren üblichen Näharbeiten und empfand die Situation als vollkommen normal. Das Gespräch zwischen mir und dem Freund stockte, und mir wurde immer heißer im Kopf. Lizzy bekam unser Sprachwürgen gar nicht mit, da sie uns als eine gut erzogene Dame nicht belauschte.
Plötzlich bewegte sich mein verschwitzter und verkrampfter Freund etwas ausladender als erlaubt und streifte heftig einen der Schrankvorhänge. Ursprünglich sollten diese zwar nur die häßlich verzierten Schranktüren ersetzen, jetzt standen hinter ihnen aber noch — und nur provisorisch angelehnt — zwei zusammengeklappte Campingstühle. Die von mir nicht geliebten Sitzgeräte (»für deine Gäste…«) rächten sich jetzt und kippten scheppernd nach vorn. Mein Freund vermutete einen feigen Angriff aus dem Hinterhalt, ging in Deckung und schützte instinktiv seinen Kopf. Mich überraschten die Stühle nicht mehr, ihre Aluminiumfüßchen gerieten auf dem Parkettfußboden immer wieder ins Rutschen — allerdings erfolgten die üblichen Invasionen meist anders und sanfter. Die Stühle kamen einem meistens unterhalb des Vorhangs langsam entgegengerutscht, und man konnte sie dann mit einem gezielten Tritt wieder zurückdrängen. Ich stand auf und richtete die Stühle auf — als ihre Füßchen aber unten wieder zu rutschen begannen und ich mit Wut Vorhang trat, hielt es mein Besucher nicht mehr aus und ging. Ich sah ihn nie wieder.
ich sah den untröstlichen penis in einer weiten, unwirtlichen höhle wedeln
Zwischen meinen vielen Tanten gab es nicht nur graduelle Unterschiede im Verwandtschaftsgrad mir gegenüber, in erster Linie unterschieden sie sich dadurch, wie sie den Krieg überlebt hatten. Meine Hauptgroßmutter Lizzy und ihre beiden Schornstein-Töchter — also meine Mutter Anna und Tante Eva, die Frau meines Schrankghetto-Onkels — waren in diversen Lagern gewesen, unter anderem auch in Auschwitz. Meine slowakisch-ungarische Tante Györgyi war nach Ungarn geflohen, hatte sich in Budapest versteckt und entkam Eichmanns Transporten nur mit Hilfe ihres Schutzpasses von Wallenberg; ihre Tante wiederum — ihre gleichaltrige» Urtante «Klara — war mit ihrem ganzen Schmuck irgendwo in der Pußta untergetaucht und hatte vom Krieg nicht viel mitbekommen. Meine nächste Tante Erna hatte den Krieg in England überlebt. Sie kannte das Brummen der Vl-»Motorräder«, hatte vor allem die Momente verinnerlicht, wenn der laute Membranenantrieb — weit oben in der Luft — aussetzte. Wirklich zugesetzt hatten ihr dann später die V2-Raketen und die andauernd berstenden Fensterscheiben. Man konnte sie daher mit jeder Art von Krach mit Überraschungscharakter ärgern. Als Leidende durfte sie sich allerdings nie in den Vordergrund spielen. Daß sie auch sonst zurückgepfiffen wurde, wenn sie etwas erzählen wollte, hing aber eher damit zusammen, daß sie furchtbar naiv war und oft Unsinn redete.
Daß sie dumm war, wurde ganz offen auch in ihrem Beisein besprochen. Sie war aber eine schöne Frau und trumpfte trotz allem immer wieder auf — auch ohne einen großartigen Leidensweg vorweisen zu können. Ihre Stärken waren der Zauber ihres charmanten Lächelns und die Begabung, auf die Bedürftigkeit der Bedürftigen einzugehen und gleichzeitig ihre Schadhaftigkeit zu ignorieren. Ernas neue Bekanntschaften, denen ihr Mangel an Bildung und ihre Begriffsstutzigkeit noch nicht aufgefallen waren, ließen sich von ihr gern beeindrucken und nebenbei plump manipulieren. Erna spezialisierte sich bei der Kontaktsuche auf Menschen, die aus uns vollkommen fremden Kreisen stammten, so daß wir immer wieder ausgesprochen exotische Männer (»Das ist endlich der Richtige!«) zu sehen und seltsame Splitter der damaligen Realität beinah zu riechen bekamen. Wir erfuhren, daß es auf der Welt Spezialisten gibt, die sich mit dem Abzapfen von Bullensperma beschäftigen, uns wurde klargemacht, daß Werkzeugmacher nichts mit der Herstellung von Zangen oder Schraubenziehern zu tun haben, und wir erfuhren endlich, daß unsere schmackhaft gewürzten Würstchen nebenbei aus Schlachtabfall, Fettgewebe, Augen, Hautemulsion, verschimmelten Semmeln, Knochenmehl, dem vollkommen anorganischen» A«-Gel und anderem Chemiedreck bestehen.
Tante Bombe war in Theresienstadt immer wieder krank geworden — nicht ganz schlimm, aber schlimm genug — , so daß sie allen Transporten entkommen konnte. Und sie blieb dort bis zum Kriegsende. Die Kellertante Peprl wurde irgendwo auf dem Lande in einem Schuppen versteckt, erzählte davon aber nie. Vielleicht gab es darüber nicht viel zu erzählen.
Von meinen vielen Tanten entfernte sich keine Einzige aus der Gemeinschaft, die ganze Zeit nicht. Sie fanden einander nach dem Krieg relativ schnell und schweißten sich zu einem festen Schutzklumpen zusammen. Eine etwas minderwertige Sonderstellung besaß die gerade erwähnte Tante Peprl, die ich bei der Aufzählung weiter oben zum Glück nicht ausgelassen habe. Sie wohnte ganz allein im Souterrain und verschwand aus meinem Bewußtsein oft für Wochen — wie eine Ausgelöschte. Der Grund für das filmrissige Verhältnis zwischen uns wurde mir später etwas klarer: Die Arme wurde ausgerechnet im Zusammenhang mit meiner Geburt ausgesiedelt. Die leer gewordene, halbwegs in der Erdkruste steckende Souterrainwohnung des ehemaligen Hauswarts wurde für sie, nachdem meine Mutter von meinem noch anwesenden Vater geschwängert worden war, in Beschlag genommen und renoviert. Wenn die Kellertante Peprl im Sommer hinter ihrem vergitterten, ausnahmsweise aber doch offenstehenden Fenster saß und ich ihr schattiges Gesicht entdeckte, erschrak ich.
— Wer wohnt hier unten? Kann man hier überhaupt wohnen? fragten manchmal Schulfreunde, die mich unbedingt bis zur Haustür begleiten wollten.
— Eine alte Frau, sagte ich so neutral und so schnell wie möglich. Meistens ist sie aber gar nicht da.
Tante Peprl war aber immer da, darauf konnte man sich verlassen. Man mußte für sie manchmal eilig Dinge besorgen gehen, die bei ihr trotz ihrer schriftlichen Bestellungen — diese steckten in einer Art von totem Briefkasten im Treppenhaus — immer noch nicht angekommen waren. Ich war eben nicht der Einzige, der sie wiederholt ausblendete. Die tatsächlich Toten unserer Familie — wie die drei Schornsteinbrüder — waren bei uns oben auf alle Fälle präsenter als sie. Jedesmal, wenn ich Peprls winzige Wohnung betrat, überraschte mich, wie zufrieden sie wirkte. Manchmal saß sie im Dunkeln auf ihrem Küchenstuhl und meinte, beim Nachdenken müßten im Grunde auch andere Menschen nicht unbedingt das Licht brennen lassen — nicht nur sie.
Читать дальше