Liv Frohde
Dunkle Wolken hatten sich am Himmel zusammengeballt. Jetzt fielen die ersten Tropfen in den Wald. Maja hatte ihren Beereneimer fast voll. Sie ließ ihn in den Blaubeersträuchern stehen und zog sich unter die Laubkrone einer alten Eiche zurück. Sie trug nur ein Hemd über dem T-Shirt, aber der Regen fühlte sich warm an auf der Haut und sie fror nicht. Die Tropfen fielen dichter. Schwer und leicht, kräftig und leise, es prasselte auf die Blätter über ihrem Kopf, als stünde sie unter einem riesigen Regenschirm.
Es war ein Brausen und Rauschen unter der Eiche. Der Wald weitete sich und tanzte um sie herum. Die Stimme des Windes vermischte sich mit der Musik des Regens. Zu dieser Melodie tanzten und verneigten sich die Baumkronen hoch oben am blauschwarzen Himmel. Einige dicke Tropfen bohrten sich durch das Laubwerk, trafen sie auf Nase und Stirn und liefen ihr übers Gesicht. Sie leckte sich mit der Zunge über die Lippen und fing die lauwarmen Tropfen auf.
Der Regen hörte ebenso unvermittelt auf, wie er begonnen hatte. Ein Schleier blauen Lichts hatte sich über den Wald gebreitet. Die Beeren im Eimer waren fast schwarz geworden. Glänzten und schimmerten vom Regen. Maja legte den Deckel darauf und machte sich auf den Weg hinunter zur Straße. Das Heidekraut strich um ihre Beine und durchnässte ihre Hose bis hinauf zum Knie. Sie blieb stehen, als sie zur Hecke beim »Gut« kam. Ihr Herz schlug hart und schnell. Sie versuchte, einen Blick in den Garten zu werfen, aber die dichten Zweige waren so ineinander verflochten, dass sie nur undeutlich das Haus hinter der grünen, undurchdringlichen Wand erkennen konnte.
Sie ging den Pfad hinunter, der am Rande der Hecke entlangführte, und fand eine Öffnung in dem dichten Gebüsch. Sie schob die Zweige beiseite und schaute auf das große, verlassene Gebäude. In dem merkwürdigen blauen Licht am Himmel wirkte das Haus noch unheimlicher als sonst. Wie ein Spukhaus! Maja bekam so ein schaurig-schönes Kitzeln im Magen. Schreckliche Dinge waren hier geschehen, wie sie wusste. Das war lange bevor sie geboren wurde.
Schaudernd ließ sie die Zweige zurückschnellen und lief den holprigen Weg hinunter. Die Beeren hüpften im Eimer. Gut dass sie daran gedacht hatte, den Deckel mitzunehmen. Sie fand ihr Fahrrad, wo sie es abgestellt hatte, und verstaute den Eimer in einer der Radtaschen. Dann rollte sie schnell den Weg hinunter zur Straße.
Es hatte wieder angefangen zu regnen. Sie beugte sich nach vorne, umfasste mit festem Griff den Lenker und blinzelte in die graue Wand vor sich. Der nasse Wind fegte ihr um die Ohren und das Hemd blähte sich wie ein blauer Flügel.
Sie sah den Stein erst, als es zu spät war. Er lag mitten auf dem Weg, wie vom Berghang ausgespuckt. Sie stemmte die Beine in die Pedale und riss den Lenker herum. Die Finger zogen mit aller Kraft an den Bremsen. Aber das Rad sauste einfach weiter, geschoben von seinem eigenen Gewicht, und prallte mit einem hohlen Laut auf den Stein. Der Lenker wurde ihr aus den Händen gerissen, das Vorderrad rutschte auf dem losen Schotter. Sie verlor das Gleichgewicht, flog in hohem Bogen über den Lenker und landete mit einem Knall auf dem Asphalt. Es vibrierte in ihrem Kopf, als der Helm auf dem Boden auftraf. Es war, als risse sich ihr Gehirn los. Dann wurde alles dunkel.
Jemand trug sie. Es roch nach nassem Gras und abgestandenem Tabak. Ein Mann mit langem, strähnigem Haar hielt sie mit kräftigen Armen. Ihr blieb fast die Luft weg. Es war der Gorilla! Dann wurde erneut alles schwarz.
Sie erwachte von einem pochenden Schmerz im Knie. Es war, als würde jemand mit einem Hammer auf ihre Kniescheibe schlagen. Im Kopf sauste es. Sie öffnete die Augen ein bisschen und spähte durch die Wimpern. Sie lag auf einem Sofa in einem Zimmer, in dem sie noch nie gewesen war. Direkt vor ihr an der dunklen, ungestrichenen Wand befand sich ein Fenster mit einer Stoffgardine. Sie stutzte. Die Gardine kam ihr bekannt vor! Vorsichtig drehte sie den Kopf und bemerkte eine schwere, einem Teddybär ähnliche Gestalt, die reglos auf einem Stuhl hinter ihr saß. Sie kniff die Augen zu und verkroch sich förmlich in das Sofa, als wollte sie durch die harten Polster verschwinden. Jetzt erinnerte sie sich, wo sie die Gardinen gesehen hatte. Sie lag auf dem Sofa im Haus des Gorillas!
»Bist du aufgewacht?« Er beugte sich vor, und sie starrte direkt in zwei kleine, dicht beieinander liegende Augen, die hinter den buschigen schwarzen Brauen fast verschwanden. Seine Stimme klang undeutlich, als würde sie nicht so oft benutzt. Er räusperte sich ein wenig.
»Hab keine Angst. Ich tu dir nichts.« Die großen Fäuste lagen wie zottige Tatzen auf den verschlissenen Knien der Hose.
Er blieb unbeweglich sitzen, als erwarte er keine Antwort. Sie hörte seine tiefen, ruhigen Atemzüge. Draußen am Haus tropfte es aus einer Dachrinne auf die Treppe. Ein eintöniger Laut, der in der Luft vibrierte und auf den nächsten Tropfen wartete, so als spielte jemand denselben Ton wieder und immer wieder.
Der Gorilla erhob sich und schlurfte in die Küche. Sie drehte den Kopf und betrachtete verstohlen den gewaltigen Rücken mit den langen, gekrümmten Armen zu beiden Seiten. Er sieht wirklich aus wie ein Affe, dachte sie. Die kleinen Augen lagen tief in den Höhlen, das Kinn war kräftig und hervorstehend. Doch das Haar war nicht das eines Affen. Es war füllig und weiß und reichte beinahe bis auf die Schultern.
Sie hörte, dass er Wasser laufen ließ, dann kam er mit einem vollen Glas zurück. Unbeholfen stützte er mit einem Arm ihren Nacken und setzte ihr das Glas an die Lippen. Sie nahm einige große Schlucke und schob seinen Arm weg. Er setzte sich schwerfällig wieder auf den Stuhl und blieb wie ein großes und bedrohliches Tier hinter ihr sitzen. Sie wagte sich kaum zu rühren, versuchte, sich unsichtbar zu machen für die starrenden Augen.
Die Leute sagten, dass der Gorilla nicht ganz richtig im Kopf sei. Dass er gefährlich sei. Maja hatte Angst vor ihm. Sie erinnerte sich, wie sie ihm einmal spätabends zusammen mit Heidi auf der Straße begegnet war. Er war plötzlich um die Ecke gekommen. Sie waren zu Tode erschrocken und weggerannt, so schnell sie konnten, hatten sich in die Toreinfahrt gerettet, wo Maja wohnte. Der Gorilla war bewegungslos auf der Straße stehen geblieben und hatte ihnen lange nachgestarrt. Dann hatte er sich umgedreht und war mit gebeugtem Rücken zurück zu seinem Haus gestapft. Sie und Heidi hatten oft darüber geredet und es den anderen in der Klasse erzählt. Es gab viele, die meinten, man solle ihn einsperren.
Ihr Bein war eingeschlafen. Sie musste ihre Stellung verändern. Sie stemmte sich vorsichtig hoch. Der Gorilla erhob sich schwerfällig und legte ihr ein Kissen hinter den Rücken. Er beugte sich vor. Der Hemdärmel streifte ihre Wange. Sie hätte am liebsten geschrien, aber das war zwecklos. Das alte, windschiefe Haus des Gorillas lag am Stadtrand, abseits bewohnter Gegenden.
»Wie geht’s dir?«, fragte er wieder. Seine Stimme klang fast freundlich. Sie wurde ruhiger. Sie bewegte sich vorsichtig auf dem harten Sofa. Der ganze Körper schmerzte und das Knie tat weh. Jemand hatte ein Pflaster draufgeklebt, das musste der Gorilla gewesen sein. Sie fand es schrecklich, sich vorzustellen, dass er ihre Wunde gesäubert und versorgt hatte, während sie bewusstlos war.
»Einigermaßen«, murmelte sie. Gebrochen war offenbar nichts. Sie fühlte sich nur wie durchgebläut.
»Ich gehe jetzt und hole dein Fahrrad«, sagte der Gorilla. Er erhob sich und ging zur Tür. Die rauen Sohlen seiner Pantoffeln schlurften über den Boden. Wieder roch sie den abgestandenen, sauren Tabak.
Die Tür fiel hinter dem Gorilla zu. Sie hörte ihn im Flur rumoren. Zieht wohl andere Schuhe an, dachte sie. Draußen war es nass. Dann tappten die Schritte die Treppe hinunter und verschwanden im weichen Gras.
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