Sie zog die Tür vorsichtig hinter sich zu und humpelte durch den Regen zu ihrem kaputten Fahrrad.
»Wir fahren jetzt, Maja«, rief die Mutter ungeduldig.
Maja saß auf dem Bett und war sauer. Ihre Hände spielten mit einer kleinen Bärenfigur. Sie fuhr mit den Fingernägeln an den Furchen in dem harten Holz entlang.
Die Mutter rief erneut: »Vergiss nicht, das Fenster zu schließen!«
Maja stellte das Bärenjunge mit einem Knall beiseite, stand vom Bett auf und warf das Fenster so schwungvoll zu, dass die Scheiben klirrten. Sie hoffte, dass Mama es hörte. Sie musste mitfahren zum Flughafen, um Wenke, Carl sowie deren Sohn Jano abzuholen. Wenke war die beste Freundin ihrer Mutter. Sie kannten sich seit frühester Kindheit, waren schon zusammen in den Kindergarten gegangen. Jetzt wohnten Wenke und Carl in Bodø. Sie wollten gemeinsam mit Mama und Papa in Venedig Ferien machen, und Jano, oder Jan Olav, wie er eigentlich hieß, sollte bei ihr wohnen, während die Eltern im Ausland waren.
Maja seufzte tief. Ein toller Plan. Vierzehn kostbare Tage der Sommerferien mit dem hoffnungslosen »Propeller« vergeuden. Eine fast unerträgliche Vorstellung. Sie hatte die Sommerferien vor zwei Jahren noch gut in Erinnerung. Sie waren oben in Nordnorwegen gewesen und hatten Wenke und Carl besucht. Es hatte die ganze Zeit geregnet und sie hatte sich zu Tode gelangweilt. Mama und Papa waren von der Idee besessen gewesen, zu fotografieren, wollten »die großartige Natur verewigen«, wie sie sagten. Ständig wurde sie aus dem Auto gezerrt, denn sie sollte auf allen Bildern mit drauf sein. »Lächeln, Maja«, hieß es dauernd, und sie hatte sich ein müdes Lächeln abgerungen, wenn sie wie eine Pappfigur im Vordergrund stand und ihr der Regen in kalten Bächen den Rücken runterlief.
Die Bilder wurden entsprechend doof, doch Mama und Papa hielten sie für kleine Meisterwerke und zeigten sie jedem, der sie sehen wollte. Die Fjells und Fjorde sahen für Maja alle gleich aus. Hast du einen Fjell gesehen, kennst du alle. Das war jedenfalls ihre Meinung.
Es gab für sie keine anderen Gleichaltrigen als ebendiesen Jano und das war ein ziemlicher Schwachkopf. Er sauste mit umgedrehter Schirmmütze und einem Ball unterm Arm durch die Gegend und hatte nur zwei Interessen, Fußball und Angeln. Er war nicht in der Lage, zwei Minuten still zu sitzen, und sie hatte ihn deshalb für sich »Propeller« getauft.
Und jetzt sollte sie also diesen Propeller zwei ganze Wochen aushalten. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihre beste Freundin Heidi hatte sie eingeladen, mit ins Ferienhaus an der Südküste zu kommen, aber Mama und Papa hatten Nein gesagt. Nur wegen diesem blöden Spinner!
»Ihr werdet es schön haben zusammen«, sagte Mama. »Jano ist ein so patenter Junge. Ihr könnt baden gehen und vielleicht nimmt er dich sogar mit auf einen Angelausflug.«
Angelausflug! Das Wort flatterte vor Majas Augen wie ein rotes Tuch. Das war eine so himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass es ihr die Stimme verschlug. Während die Erwachsenen in der Gondel auf den Kanälen Venedigs herumfuhren, alte Adelspaläste besichtigten und sich im Restaurant mit allen möglichen Köstlichkeiten voll stopften, sollte sie sich darüber freuen, wenn ein kindischer, blöder kleiner Bengel sie allergnädigst mitnahm zum Angeln!
Sie stöhnte demonstrativ und zwängte sich widerwillig auf den Rücksitz des großen Kombi. Mama und Papa taten so, als merkten sie nichts. Es gab an diesem Tag sicher nichts, was sie aufregen konnte. Mama setzte sich ans Steuer. Sie fuhr gern Auto, im Gegensatz zu Papa, der beim Anblick eines Steuerrades schon nervös wurde. Er bevorzugte das Fahrrad und verstand es meisterhaft, sich zwischen den Autos durchzuschlängeln. Papas Fahrrad hieß »Pegasus«. Es war nach einem Pferd in der Antike benannt, das Flügel hatte. Das passte gut, denn Papa und »Pegasus« flogen durch den Autoverkehr und kamen viel schneller voran als Mama mit dem großen Wagen.
Ihr kleiner Bruder Hans saß bereits angeschnallt im Kindersitz. Er war genauso autoverrückt wie Mama. Papa meinte, er sei erblich belastet, hätte diese Eigenschaft mit der Muttermilch eingesogen. Seine kleinen, dicken Finger waren eifrig damit beschäftigt, an einem kleinen blauen Spielzeugauto die Türen und den Kofferraum und alles, was es zu bewegen gab, zu öffnen und zu schließen.
Mama fuhr aus der Einfahrt und bog auf die Straße. Ihr Haus lag ganz hinten in einer Sackgasse am Fuße einer Anhöhe, die aussah wie ein Turm. Auf diese Anhöhe schlängelte sich eine Straße hinauf. Kletterte man dann noch hinauf bis zum höchsten Punkt, hatte man einen Blick über die Stadt und bis zu den Bergen auf der anderen Seite des Sees. Maja saß oft mit Heidi dort oben und spielte Flugzeug. Sie stellten sich dann vor, hoch oben am Himmel zu schweben, und unter ihnen breitete sich die Landschaft aus mit den Häusern und Straßen und winzigen Menschen, die emsig wie die Ameisen herumliefen.
Sie wüsste gerne, was Heidi jetzt machte. Maja hatte sie im vorigen Sommer in dem Ferienhaus besucht. Sie hatten in einem Bootsschuppen im Schlafsack übernachtet und fast die ganze Nacht gequatscht. Sie hatten auf die Wellen gehorcht, die gegen den felsigen Strand schlugen, und hatten miterlebt, wie die Nacht verging und der Tag anbrach, wobei es eigentlich gar nicht richtig Nacht geworden war.
Sie hatten nun die Hauptstraße erreicht. Mama erhöhte die Geschwindigkeit und brauste an der Eisenbahnlinie entlang. Es war fast eine Stunde Fahrt bis zum Flughafen. Maja kurbelte das Fenster runter und ließ ihr langes blondes Haar vom Wind zerzausen. Man hätte ihr wenigstens ersparen können, bis zum Flughafen mitzufahren, dachte sie wütend. Aber Mama hatte gesagt, dass es doch nett wäre für Jano, wenn sie beim Abholen dabei wäre. Als ob sich Jano darum scherte! Ihr kam der Gedanke, dass ihn der Einfall der Eltern wahrscheinlich genauso nervte wie sie. Tja, es sieht alles nach einzigartigen Traumferien aus, dachte sie ironisch.
Einen Lichtblick gab es immerhin. Hans sollte die zwei Wochen, in denen die Eltern weg waren, bei Oma und Opa verbringen. So war sie ihn und seine Quengelei los.
Es gab noch etwas Positives. Mary! Bei diesem Gedanken lebte sie auf. Mary war Witwe. Ihre Kinder waren längst von daheim ausgezogen. Sie wohnten weit weg und Mary hatte viel Zeit. So war sie für Maja und Hans immer dann, wenn die Eltern nicht zu Hause waren, die Ersatzmutter. Sie war unheimlich nett, überhaupt nicht nervig und konnte besonders gut kochen. Maja lief bei diesem Gedanken das Wasser im Mund zusammen. Sie würde in diesen zwei Wochen genüsslich speisen, würde sich mit Marys gutem Essen voll stopfen.
Sie näherten sich dem Flughafen. Mama überholte ein paar Autos, setzte sich dann auf den äußeren Fahrstreifen und bereitete sich zum Abbiegen vor.
»Stell dir vor, morgen um diese Zeit schaukeln wir vielleicht schon in einer Gondel auf dem Canale Grande«, sagte sie gut gelaunt und tätschelte Papas Knie.
»O sole mio!« Papa legte die Hand auf die Brust und sang mit schmachtender Stimme. Majas kleiner Bruder stimmte sofort mit ein. »Br-r-r«, brummte er und der Speichel spritzte ihm aus dem Mund. Er fuhr mit seinem Spielzeugauto über den Sitz und Majas Arm hinauf. Sie schüttelte ihn ärgerlich ab. Das Auto fiel auf den Boden und der Kleine brach in ein Gebrüll aus.
»Maja ist gemein«, heulte er. Sie angelte das Auto von der Fußmatte und drückte es ihrem Bruder in die Hand. Das Weinen hörte mitten in einem Schluchzer auf.
Was für eine verrückte Familie, dachte sie mürrisch. Sie drehte Hans den Rücken zu und steckte sich die Stöpsel des Walkmans in die Ohren. Die heisere Stimme von Gary King ließ sie wohlig erschauern. I need you to comfort me , sang er. Sie liebte dieses Lied. Sie hatte nicht gewusst, was »comfort« bedeutete, und im Wörterbuch nachgeschlagen. Da stand »Trost«. »Ich brauche dich, damit du mich tröstest.«
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