Gary King war ihr Lieblingssänger. Er sah so toll aus mit seinem dunklen, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar. Sein Lächeln war hinreißend, aber in seinen Augen sah sie Trauer und Einsamkeit. Sie fragte sich, ob er etwas sehr Schlimmes erlebt hatte. Es müsste wunderbar sein, ihn einmal zu treffen und ihm zu sagen, wie sehr sie ihn mochte. Und wie gerne sie ihn trösten würde.
Sie wurde aus ihren süßen Träumen gerissen, als Mama mit einem Ruck auf dem Parkplatz anhielt. Sie liefen hinauf zur Ankunftshalle. Der Flieger war eben gelandet und die ersten Passagiere erschienen in der Halle. Sie erblickten Wenke und Carl, jeder schob einen schwer beladenen Kofferkuli vor sich her. Mama rief und winkte. Maja wurde ganz flau. Die beiden Freundinnen fielen sich in die Arme und lachten und plapperten los, dass sich wahrscheinlich jeder in der Halle nach ihnen umdrehte. Carl drückte Papa an seinen dicken Bauch.
»Du hast auch nicht gerade abgenommen seit dem letzten Mal«, lachte Papa und schlug dem Freund auf die Schulter.
»Nee, ich bin mehr als je zuvor«, sagte Carl vergnügt. »Wir leben gut da oben im Norden.«
Dann umarmten sich Mama und Carl, und Wenke küsste Papa mitten auf den Mund und nannte ihn ihren Ex-Geliebten. Das machte sie jedes Mal. Vermutlich hatte sie etwas mit Papa gehabt, bevor Mama auf der Bildfläche erschienen war. Maja fand das ziemlich peinlich, aber Mama lachte nur und war nicht im Geringsten eifersüchtig. Maja und Hans bekamen auch ihren Teil ab, und Maja hatte das Gefühl, dass die Umarmungen gar kein Ende nahmen. Sie warf einen Blick auf den dunkelhaarigen Jungen, der hinter Carl stand. Er verdrehte die Augen nach oben und lächelte sie schicksalsergeben an.
In dem Moment merkte Mama, dass Hans weg war. Er hatte das Begrüßungshallo benutzt und sich verkrümelt. Mama riss sich los und rannte suchend durch die Halle. Sie erwischte ihn im letzten Augenblick, bevor er mit einer Reisegesellschaft durch den Zoll verschwand.
»Das ist Jan Olav«, sagte Carl. Er drehte sich zu dem dunkelhaarigen Jungen um, der hinter ihm stand und schob ihn in den Kreis. Maja riss den Mund auf. War das der Propeller? Vor ihr stand ein Junge, der fast so groß war wie Carl. Er hatte ein schwarzes, langes T-Shirt an, das lässig über die hellblauen, verwaschenen Jeans hing. Über der Schulter hing eine große blaugrüne Tasche. Das dunkle Haar hatte er nach hinten gekämmt, seine Augen waren blau wie ein nordnorwegischer Fjord. Majas Herz schlug einen doppelten Salto in ihrer Brust. Sie streckte ihm die Hand hin. Jano drückte sie kräftig. Ihr wurde es glühend heiß, und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Jano ließ ihre Hand los und warf sein Gepäck auf den Boden. Er schob die Hände in die engen Taschen seiner Jeans. Maja kam sich kindisch vor in der doofen Hose, die ihr Mama im Schlussverkauf besorgt hatte. Warum hatte sie bloß ihre superschicke Jeans nicht angezogen!
»Na, du bist ja gewaltig in die Höhe geschossen seit dem letzten Mal«, sagte Mama, die inzwischen Hans auf den Arm genommen hatte. »Ich habe dich fast nicht wiedererkannt.«
»Sag Jano Guten Tag«, sagte sie zu Hans und zog an seinem Arm, dass sein Spielzeugauto zu Boden fiel und das Gebrüll wieder einsetzte.
Endlich war die Begrüßung beendet, man verteilte das Gepäck und alle gingen hinaus zum Auto. Papa setzte sich ans Steuer, mit Carl und Jano neben sich. Maja und Hans quetschten sich zusammen mit Mama und Wenke auf den Rücksitz. Die beiden Freundinnen plapperten in einer Tour. Als hätten sie sich mindestens hundert Jahre nicht gesehen. Papa fuhr auf die große Schnellstraße.
»Nimm die äußere Fahrspur, Thor«, ertönte es vom Rücksitz. Mama konnte sich mal wieder nicht zurückhalten. Maja musterte unauffällig den dunklen Nacken vor sich. Janos Haar fiel gelockt und braunschwarz in den Nacken. Genau wie bei Gary King! Sie hätte es am liebsten angefasst. Sie spürte, wie es ihr heiß den Rücken runterlief.
Zum Abendessen gab es Spagetti. Um sich mental auf den morgigen Tag vorzubereiten, wie Papa sagte. Wenn ihn Maja richtig verstand, sollte das bedeuten, dass sie sich auf Italien einstimmen mussten. Mama legte eine rot karierte Tischdecke auf und Wenke zauberte eine Flasche Rotwein im Bastkorb herbei. Papa spielte die CD »O mia bella Napoli«, obwohl sie eigentlich nach Venedig fuhren und nicht nach Neapel. Aber das dürfe man nicht so genau nehmen, meinte Papa. Von Venedig hatte er keine Musik. Mama stellte den großen, dampfenden Spagettitopf mitten auf den Tisch und im Nu glich die alte Küche einem richtigen italienischen Restaurant.
Jano verstand es meisterhaft, Spagetti zu essen. Lässig und elegant rollte er die weißen Bänder um die Gabel und schob die ganze Portion mit leichter Unterstützung der Zunge in den Mund. Die andern kämpften mit den Spagetti. Die weißen, glatten Nudeln hingen ihnen wie ein Vollbart das Kinn herunter.
»Wie machst du das bloß?«, fragte Mama und warf einen Blick hinüber zu Jano, der mit spielerischer Leichtigkeit die Spagetti um die Gabel wand.
»Dahinter steckt ein langes und hartes Training«, sagte Jano bescheiden.
»Ja, das kann ich bestätigen«, fiel Wenke ein.
Mama versuchte es mit dem Löffel. Sie rollte die Spagetti in einem großen Esslöffel um die Gabel, doch das klappte nicht viel besser. Sie musste die langen Fäden alle auf einmal in den Mund saugen. Nicht besonders appetitlich, dachte Maja kritisch.
»Oh, schaut euch mal den Thor an, wie er trickst«, rief Wenke. Papa hatte, schlau wie er war, seine Spagetti in Stücke geschnitten und schaufelte das Essen ohne Probleme in sich hinein.
Sie kamen erst spät ins Bett. Maja beschloss, den Wecker zu stellen für den Fall, dass die Erwachsenen verschlafen sollten. Und das wäre doch zu schade, wenn sie ihre Maschine nicht bekämen, dachte sie unschuldig.
Jano sollte im Fernsehzimmer im Keller schlafen. Damit war er sehr zufrieden. Wenke und Carl machten sich ein Matratzenlager im Wohnzimmer.
In dieser Nacht träumte Maja von Gary King, einem Gary King mit einem ganzen nordnorwegischen Himmel in den Augen.
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